Rolf Krohn: Der Stern von Granada (Buch)

Rolf Krohn
Der Stern von Granada
Titelbild: Mario Franke
TES, 2019, Paperback, 366 Seiten, 15,80 EUR, ISBN 978-3-932655-51-7

Rezension von Gunther Barnewald

„Der Stern von Granada“ ist, um es voraus zu schicken, eine wunderbar recherchierte und hinreißend erzählte Alternativwelt-Geschichte, die zum größten Teil im 14. Jahrhundert spielt und welche, wäre sie wirklich so geschehen, sicherlich die europäische Geschichte nachhaltig verändert hätte.


Ein kleiner Meteorit explodiert 1319 in der Erdatmosphäre und sein Donnerschlag veranlasst einige Menschen dazu, andere Entscheidungen zu treffen, als sie dies in unserer Welt taten.

So lässt die Interimsregentin von Kastilien die Heilige Inquisition in ihr Land, obwohl sie deren Vorgehen gegenüber eher abgeneigt ist. Außerdem schleicht sich der junge andalusische Prinz Said ibn Omar an Bord eines Handelsschiffs, um dort Erfahrungen zu sammeln, zu leben und zu arbeiten, was der weise Kapitän Amir nach dem Knall des „Himmelszeichens“ erlaubt.

Sechs Jahre später ist der junge Mann Herrscher in einer kleinen, mehrheitlich muslimischen Provinz in Andalusien, dem Herrschaftsbereich der Muslime auf der Iberischen Halbinsel. Zwar ist Said weit von der Thronfolge entfernt, nach einem schweren Anschlag auf den derzeitigen Herrscher, dem dessen Söhne und später auch der Kalif zum Opfer fallen, wird Said jedoch völlig überraschend vom Dahinsiechenden zu seinem Nachfolger erkoren (und es gehört zum absoluten Höhepunkt der Geschichte, wie sich die Attentäter hier selbst entlarven vor den Augen und Ohren des sterbenden Herrschers).

Und siehe da: der gereifte junge und intelligente neue Regent der europäischen Muslime schaffte es, die Provinz mit der Hauptstadt Granada zu stabilisieren, Frieden und Wohlstand zu schaffen, Toleranz und Rechtsstaatlichkeit einzuführen und eine Struktur aufzubauen, die ihn zu einem starken, gerechten und berechenbaren Nachbarn für die anderen macht.

Und während auch Juden und Christen in seinem Reich vor religiöser Verfolgung sicher sind und ihren Glauben frei ausüben können, drängt die heilige Inquisition in Kastilien viele Gläubige an die Wand und bringt sie gegen sich auf oder lässt sie zum „Feind“ fliehen.

So ist es unvermeidlich, dass der schwächer werdende Herrscher von Kastilien, König Alfonso, sich den reichen und prosperierenden Nachbarn unter den Nagel reißen will. Doch unter Said, der sogar die ursprünglich christliche Schwester eines Nachbarfürsten geheiratet hat, sind alle gut vorbereitet auf diesen Tag der entscheidenden Schlacht, zumal Said durch Diplomatie sogar noch Verbündete aktivieren kann.

Eine mörderische Schlacht entbrennt um die Zukunft der muslimischen Minderheit im Europa des 14. Jahrhunderts...


Das Buch ist mit einem kundigen und sehr erhellenden Nachwort von Gerd Bedszent versehen (das man ruhig auch zuerst lesen darf, wenn man nicht so historisch kundig ist wie der Autor der Rezension; und wer ist dies schon?).

Zudem spielt ein kurzer Abschluss im Hier und Jetzt eines heutigen Europas, welches sich gewandelt hat durch einen demokratischen und toleranten muslimischen Staat in seiner Mitte.

Doch der Löwenanteil der Geschichte spielt 1325 und in den folgenden Jahren, wobei es sensationell ist, mit welcher Leichtigkeit der Autor scheinbare Authentizität erzeugt. Von der Kleidung bei Hofe über die Riten und Gebräuche der damaligen Menschen und Kulturen, über das jeweilige Hofprotokoll; der Autor schüttelt all dies scheinbar aus dem Ärmel, so dass der Leser jederzeit das Gefühl hat, er sehe die Geschichte leibhaftig vor sich.

Ob Landschaft, Bauwesen und die Standesdünkel der Damaligen, überall kennt sich der Autor detailliert aus und bringt dieses Wissen, mal so nebenbei, in die Geschichte ein, ohne dabei jemals den Spannungsgehalt auch nur ein ganz klein wenig zu vernachlässigen. Er beschreibt Kleidung, Verhalten, Essen, das Transportwesen und auch sonstige Gegebenheiten mit einer bunten Detail-Freude, die kundige Leser an Jack Vance denken lässt. Man merkt dem Buch die jahrelange Recherche durch die überbordenden historischen Details an, aber ohne dass dies zuungunsten der Lesbarkeit des Romans ginge.

Neben Krohn kann in Deutschland wohl nur Oliver Henkel dermaßen mitreißend und den Leser völlig überwältigend glaubhafte Alternativwelt-Geschichten schreiben (aber leider hat man von diesem Autor seit Jahren nichts mehr gehört!).

Ist dies nun SF, oder ein Historischer Roman? Mit Sicherheit beides oder zumindest die perfekte Synthese. Zudem ist es grandiose und vor allem geniale Literatur, und mehr braucht man nicht zu wissen, um dieses Buch genießen zu können.

Schade, dass es hierzulande für solch „abseitige“ Literatur weder Anerkennung noch Preise gibt (scheinbar noch nicht einmal etablierte Verlage und professionelle literarische Agenten, die sich für Autor oder Werk interessieren, ähnlich wie bei Henkels „Die Zeitmaschine Karls des Großen“ bei dessen erster Publikation).

Aber wer einen absoluten Meister seines Fachs genießen will, der kommt an diesem Meisterwerk keinesfalls vorbei!