A. J. Finn: The Woman in the Window - Was hat sie wirklich gesehen? (Hörbuch)

A. J. Finn
The Woman in the Window - Was hat sie wirklich gesehen?
(The Woman in the Window, 2018)
Übersetzung: Christoph Göhler
Sprecherin: Nina Kunzendorf
Random House Audio, 2018, Hörbuch-Download, ungekürzte Lesung, ca. 650 Minuten, ca. 21,95 EUR

Rezension von Elmar Huber

„Mir ist aufgefallen, dass sie sich nachmittags gern einen Drink genehmigt, so wie ich auch. Ob sie sich auch gern vormittags einen Drink genehmigt? So wie ich? Nur ihr Alter bleibt mir ein Rätsel, obwohl sie sicher jünger ist als Dr. Miller, auch jünger als ich (und mobiler); ihren Namen kann ich nur vermuten. Für mich heißt sie Rita, weil sie wie die Hayworth in „Gilda“ aussieht.“

Bereits 10 Monate hat Anna Fox ihr Haus in Harlem/New York nicht verlassen. Nach einem tragischen Autounfall leidet die Kinderpsychologin unter Agoraphobie; ihre Verbindung zur Welt ist das Internet, die zu ihren direkten Nachbarn ihre Nikon D5500.

Anna vertreibt sich die Zeit mit alten Filmen, vorzugsweise Film Noirs, die sie nicht selten mit einem edlen Tropfen veredelt, oder gibt Ratschläge im Agoraphobie-Forum, die sie selbst nicht immer befolgt. Eine Änderung ihres Alltags ergibt sich, als sie unfreiwillig in Kontakt mit der frisch „in Zwei-null-sieben, auf der anderen Seite des Parks“ eingezogenen Familie Russell kommt. Junior Ethan bringt ihr, im Auftrag seiner Mutter, eine kleine Aufmerksamkeit an die Haustür, und es entspinnt sich ein unerwartet angenehmes Gespräch zwischen den frischgebackenen Nachbarn.

Kurz darauf bricht Anna in Panik vor ihrer Wohnungstür zusammen und wird von einer Frau gerettet, in der sie Ethans Mutter, Jane Russell, erkennt. Auch hier entwickelt sich schnell eine gegenseitige Sympathie, so dass Jane bald wieder bei ihrer Nachbarin vorbeischaut. Umso größer ist der Schock, als Anna durch ihr Fenster zusehen muss, wie Jane gegenüber, in ‚Zwei-null-sieben‘, erstochen wird. Die Polizei will ihr vor allem deshalb nicht glauben, da Jane Russell wohlauf und keinesfalls die Frau ist, die sie unter diesem Namen kennengelernt hat. In der Überzeugung, eine Betrügerin und einen Mörder in der Nachbarschaft zu haben, versucht Anna auf eigene Faust, die Wahrheit herauszufinden.

„Ein schlaksiger Teenager schießt aus der Haustür von Nummer 207 wie ein Rennpferd aus der Startmaschine und galoppiert die Straße entlang nach Osten, an meinem Haus vorbei. Ich bekomme ihn nur kurz zu sehen - ich bin früh aufgewacht, nach einer langen Nacht mit „Goldenes Gift“, und hadere gerade mit mir, ob ein Schluck Merlot weise wäre; doch meine Augen erhaschen noch einen blonden Schopf und einen Rucksack, der nur mit einem Riemen an einer Schulter hängt. Dann ist er weg.“


Würde statt A. J. Finn der Name der „Girl on the Train“-Autorin Paula Hawkins auf dem Cover stehen, könnte man ihr mit Recht vorwerfen, dass die Autorin ihren Erfolgsroman einfach nochmal geschrieben hat. Hier wie da dient Hitchcocks „Das Fenster zum Hof“ als Vorlage, hier wie da hat man eine nicht unbedingt sympathische Hauptfigur mit einem unvernünftigen Hang zum Alkohol vor sich, hier wie da führt dies dazu, dass man es möglicherweise mit einer „Unzuverlässigen Erzählerin“ zu tun hat.

Immerhin gibt A. J. Finn seine Hitchcock-Inspiration offen zu, und Annas Leidenschaft für antiquierte Thriller ist natürlich eine Steilvorlage, diese immer wieder ins Spiel zu bringen. Schade nur, dass der Autor sich damit selbst die Latte unerreichbar hoch legt, denn „The Woman in the Window – Was hat sie wirklich gesehen?“ kann mit keinem der mehrmals genannten Klassiker auch nur im Geringsten mithalten.

Stattdessen gestaltet sich der Roman langatmig und peinlich prätentiös. Auch der als einschneidender Höhepunkt geplante Story-Twist nach etwa zwei Dritteln der Laufzeit wirkt leidlich aufgesetzt und verpufft ohnehin angesichts der lahmen und redseligen Vorbereitung und der Tatsache, dass einem das Schicksal der Hauptfigur so gar nicht nahe gehen will. Schwulst ist eben nicht gleichbedeutend mit Eleganz.

Und statt mit Selbstdisziplin und überlegtem Vorgehen die Sympathie des Lesers zu gewinnen, wirkt Anna in ihrer Umständlichkeit lediglich anstrengend. Ebenso die ermüdenden Wiederholungserscheinungen, die die Story nicht richtig vom Fleck kommen lassen. Ein schönes Beispiel, wie überflüssige Bücher von Marketing und Werbung zu Bestsellern gemacht werden.

Das Hörbuch wird gelesen von der Schauspielerin Nina Kunzendorf, die, entgegen ihrer physischen Erscheinung, eine eher mädchenhafte Stimme hat, welche man natürlich auf die Figur Anna projiziert. Ein Umstand, der die Unentschlossenheit der Figur noch stärker betont und es dem Hörer schwer macht, die Psychologin für voll zu nehmen.

Anstrengend langatmiger Thriller, der nie wirklich überzeugt oder den Leser/Hörer vereinnahmt.