Lavie Tidhar: Central Station (Buch)

Lavie Tidhar
Central Station
(Central Station, 2016)
Übersetzung: Friedrich Mader
Heyne, 2017, Taschenbuch, 350 Seiten, 9,99 EUR, ISBN 978-3-453-31881-6 (auch als eBook erhältlich)

Rezension von Armin Möhle

Nach dem Steampunk-Roman „Bookman“ (Piper, 2012) - dem Auftakt der Trilogie „Das ewige Empire“, die nicht fortgesetzt wurde - und dem Alternativwelt-Roman „Osama“ (Rogner & Bernhard, 2013) liegt mit „Central Station“ nun der dritte Roman des 1976 geborenen israelischen und in London lebenden Autors Lavie Tidhar in einer deutschen Übersetzung vor.

„Central Station“ ist ein Episoden-Roman. Die 13 Kurzgeschichten entstanden ursprünglich für diverse Magazine und Anthologien und wurden für die Buchausgabe überarbeitet, wie der Autor in dem Interview in „phantastisch!“ 70 erläutert. Eine Story wurde sogar verworfen. Der Aufwand lohnte sich offenbar, denn der Roman wurde 2017 mit dem John W. Campbell Memorial Award for Best Science Fiction Novel ausgezeichnet.

 

„Central Station“, das ist nicht nur der (aufgegebene) Busbahnhof in Tel Aviv, sondern auch der gleichnamige Weltraumbahnhof, der vermutlich mehrere Kilometer in die Höhe ragt. Wie weit, legt der Autor nicht fest, immerhin deutet er an, dass es sich um eine Landeplattform und nicht um einen Aufzug handelt. Aber das ist nicht wichtig; Tavier Lidhar widmet sich vielmehr den Menschen, die in dem organischen und digitalen Schmelztiegel am Fuße von Central Station leben.

In den ersten vier Storys werden vor allem diverse Protagonisten vorgestellt. In „Die Unbilden des Regens“ kehrt der Arzt Boris Chong auf die Erde und nach Central Station zurück, wo er Mama Jones, seine ehemalige Geliebte, wiedertrifft. „Unter dem Vordach“ findet das erste Rendezvous zwischen Isobel und dem Robotnik Motl statt (der eher einem Cyborg als einem der Roboter gleicht, die auch in und um Central Station leben). Boris Chong lässt in „Der Duft von Orangenhaine“ nicht nur eine Vergangenheit, sondern auch die einer Familie Revue passieren. „Der Herr der Wegwerfsachen“ ist der Schrotthändler Ibrahim, der auf seinen Streifzügen ein ausgesetztes Baby findet, aufnimmt und aufzieht. Sein Adoptivsohn Ismael entwickelt besondere Fähigkeiten.

Carmel ist eine Datenvampirin, eine „Strigoi“, die auf der Suche nach Boris Chong nach Central Station reist. Auch sie hatte eine Affäre mit ihm. Strigois (oder auch Shambleaus genannt) ernähren sich von den Bewusstseins, den Erinnerungen anderer Menschen und sind deswegen nicht sonderlich beliebt, weshalb sich Carmel wundert, dass sie nach Central Station einreisen durfte.

„Fasern“ befasst sich mit der Rolle der Robo-Priestern in Central Station, unter anderem mit ihren vielfältigen Einsatzmöglichkeiten. „Robotnik“, die zweite Kurzgeschichte um Isobel und Motl, gibt einen Einblick in die Vergangenheit des Robotniks und lässt ihn an seiner Liebe zweifeln. „Der Buchhändler“ ist Achimvene Haile Selassie Jones, ein Liebhaber, Sammler und Händler von ‚Schundliteratur‘ vergangenen Epochen, der Carmel vor einer aufgebrachten Menschenmenge rettet, sich in sie verliebt und das Geheimnis der Entstehung der Strigois lüftet.

„Der Gottkünstler“ ist die längste Story in „Central Station“. Es erscheint zunächst metaphysisch, wenn Gottkünstler wie Elieser real existierende Götter entwerfen, doch halt: „‚Götter sind genauso sterblich wie Menschen.‘“ (Seite 226). Es sind eher Gebilde aus realen und virtuellen Komponenten. Auch Isobel und Motl, Boris Chong, Carmel und Miriam (Mother Jones) sind in die Kurzgeschichte eingewoben.

„Das Orakel“ erklärt die Entstehung der digitalen Intelligenz in und um Central Station. Achimvene folgt Carmel in „Der Kern“ von Central Station, wo er feststellen muss, dass der Weltraumbahnhof mit Hilfe seiner Freundin und diverser gentechnisch veränderter Kinder eigene Pläne verfolgt. In „Wladimir Chong will sterben“ sucht Boris' Vater einen Mortabilitätsberater auf. Er will sterben, weil der Fluch seines (Wladimirs) Vaters zu belastend für ihn geworden ist. „Geburten“ beschließt den Kreis der Storys in „Central Station“, reflektiert die Vergangenheit Boris Chongs und Miriams und lässt sie auf eine gemeinsame Zukunft hoffen.


Lavie Tidhar greift in „Central Station“ viele Themen auf: Fluchtbewegungen (in der Vergangenheit), Religion, das Zusammenleben verschiedener Ethnien, Cyperspace, digitale Wesen, Gen-Manipulation, digitale Vernetzung und anderes mehr. Es geschieht zugebenermaßen nichts, was die komplette Welt bewegen würde, der Fokus liegt vielmehr auf der einfühlsamen Darstellung der Menschen, die in der umtriebigen Zukunftswelt von „Central Station“ leben. Und auch in den Rollen, den Schicksalen, den Erinnerungen seiner Protagonisten zeigt er sich originell und ideenreich.

Der Autor sieht sich, auch das sagt er in dem Interview in „phantastisch!“ 70, unter anderem von dem Klassiker der Episoden-Romane, „Als es noch Menschen gab“ von Clifford D. Simak als einem seiner Lieblingsromane inspiriert. Doch ist der Unterschied augenfällig: Während in „Als es noch Menschen gab“ die Menschen nicht mehr existieren, schildert „Central Station“ brodelndes menschliches und digitales Leben. Es ist eine Zukunft mit Menschen, aber genauso sensibel und souverän erzählt. Und das lässt „Central Station“ gleichwertig neben „Als es noch Menschen gab“ stehen.