Achim Hildebrand & Michael Schmidt (Hrsg.): Zwielicht 12 (Buch)

Achim Hildebrand & Michael Schmidt (Hrsg.)
Zwielicht 12
Titelbild: Björn Ian Craig
2019, Taschenbuch, 350 Seiten, 14,00 EUR (auch als eBook erhältlich)

Rezension von Carsten Kuhr

Das Dutzend ist voll - ein Grund zum Jubeln. Jubeln aber nicht nur für die umtriebigen, ja rastlosen Herausgeber im Dienste der Kurzgeschichte, Jubeln auch für die Leser, die dem Zeit-Trend folgend, kaum mehr Erzählungen angeboten bekommen.

In „Zwielicht“, immerhin ein Magazin, das diesem Anspruch vorliegend noch mehr als bislang gerecht wird, erscheinen neben jeder Menge Geschichten - vorliegend sind es stolze sechzehn Prosa-Beiträge - nämlich auch Artikel und Hintergrund-Informationen.

 

Vorliegend geht es um das „Amazing Stories“-Magazin, ein legendäres Periodikum, das die Szene in den USA geprägt hat wie kaum ein anderes. Man könnte fast auf die Idee kommen, ein neues Lese- und Sammelgebiet zu beginnen.

Danach öffnet Ralf Steinberg sein Schatzkästlein und präsentiert uns in bekannt versierter Art und Weise - auch begründet - wenig bekannte aber bedeutende Buchveröffentlichungen der letzten Jahre, die eine Lektüre wert sind.

Dazu gesellen sich eine Auflistung der Vincent-Preisträger sowie der Phantastischen Preise 2017 und eine Liste der Horror-Veröffentlichungen des Jahres.

Vorher aber wartet das, was wohl die meisten Käufer des Magazins in Taschenbuchform dazu animiert, ihren Geldbeutel zu zücken - die Geschichten.

Wie wir dies gewohnt sind, entstammen diese fast gänzlich aus dem Gebiet der unheimlichen Phantastik, wobei große Splatter-, Gore- oder Extrem-Horror-Beiträge fehlen. Stattdessen setzen die Autoren darauf, ihre Leser durch abrupte, so nicht vorhersehbare Wendungen zu verblüffen, durch atmosphärisch dichte Beschreibungen zu faszinieren und durch merkwürdige, groteske Ereignisse zu schocken.

Und das machen sie alles in allem sehr gut. Es gibt ein paar wenige Beiträge, die mir weniger gemundet haben, doch wie gewohnt ist die Auswahl nicht nur abwechslungsreich sondern auch qualitativ von ansprechendem Niveau.


Um was geht es dieses Mal?

Carrie Laben berichtet uns in „Postkarten von Natalie“ von einer Ausreißerin, die ihrer Schwester von ihrem Roadtrip durch die USA Postkarten zusendet - doch was nur wollen die Polizisten an der Tür, die sie fragen, ob sie einen Ring ihrer Schwester erkennt?

Ein verlassenes Haus, in dem scheinbar ein Sturm gewütet hat, dient in Max P. Beckers „Strandpoesie“ als Ort, an dem der Erzähler auf verstörende Nachrichten der ehemaligen Bewohner trifft - Bewohner, die ganz besondere Austern vom Strand zu sich genommen haben.

In Ralf Kors „Schattensaiten“ lernen wir einen jungen, talentierten Musiker kennen. Um seinen Vater, einem berühmten Pianisten, zu imponieren ist dieser auf der Suche nach einem ganz besonderen Instrument - leider ist seine Suche von Erfolg gekrönt.

Enzo Asuis „Lilith“ stellt uns einen Musiker vor, dem das Schlimmste passiert, was einem Künstler passieren kann - er kann nicht mehr Mundharmonika spielen. Bis er im Garten ein lebendes Instrument findet und mit diesem zu Ruhm gelangt - doch dann muss er sich entscheiden: die Muse oder seine Frau.

Was wäre, wenn Sie plötzlich, wie der Protagonist in Wolfgang Rauhs „Die Alptraum-Beule“, unterhalb ihres Knies ein zusätzliches Auge entdecken würden? Wo kommt es her, wer kann damit sehen, was soll es da - Fragen, die auch unseren armen geplagten Dreiäugigen umtreiben.

In Sascha Dinses „Elysion“ lernen wir ein Künstlerpaar kennen, das es sich in einem malerischen Winkel an einem See gut gehen lässt - wenn nur die Träume von sie bedrängenden Rehen und einem Leben in der Stadt nicht wären. Die Lösung ihrer Probleme findet sich im Untergrund der Insel.

Ellen Norten stellt uns in „Der singende Schleier“ eine aus dem Sultanspalast geflohene Tänzerin vor, die an ihrem Peiniger auf ganz eigene Art und Weise Rache nimmt.

In Julia Annina Jorges „Diese verfluchten kleinen Dinge“ begegnen wir einem seltsamen Mann. Seine pädophil angehauchte Obsession für Kinder, die er nie aktiv über einen Missbrauch ausgeübt hat, dokumentiert sich in der Sammelwut von auf Spielplätzen verlorenen Haarspangen und sonstigem Tand. Deine Sammelleidenschaft für Plüschtiere, seine Obsession seine Geo Sammlung bündig aufzutürmen, zeigen uns einen zwanghaften Menschen, der von seinen inneren Zwängen bestimmt und geleitet wird; die wohl eindringlichste und beeindruckendste Geschichte des Bandes - auch, weil der Protagonist so realitätsnah und überzeugend gezeichnet wird.

Vincent Voss’ „Mind Fuck“ entführt den Leser in die Welt der Heavy-Metal-Bands. Ein Bassist mit zwei Schwänzen mischt die Zuhörer auf, ein Musiker, der direkt aus der Hölle kommt.

In Michael Tillmanns „Warum erlöst sie mich nicht, obwohl sie genau weiß, wo meine Knochen verrotten?“ begegnet uns ein Gespenst, das eigentlich nur seine Ruhe will - das aber auf den Geschäftssinn einer jungen Frau trifft.

In Uwe Voehls „Auge um Auge“ erleben wir die Zerstörung einer intakten Familie mit. Die Begegnung des Sohnes mit einem Fischer am See hat verheerende Auswirkungen auf diesen - er beginnt unter Aquaphobie zu leiden.

Jerk Götterwinds „Das Geheimnis der alten Seemannskiste“ beweist einmal mehr, dass es nicht gut ist an Geheimnissen zu rütteln. In den Tagebüchern der Mutter liest ein junger Mann, dass er die Frucht einer Vergewaltigung war, mehr noch, dass es einen Zwilling gab, der ein wenig, nein ganz anders aussah, als er.

Waldemar Klausers „Bis zum Ende“ berichtet von einem Motorradunfall und einem jungen Mann, der sich an seine Mutter erinnert.

Karin Reddemanns „Die Herzenswünsche der schönen Lilla“ stellt uns eben jene Lilla vor, die mit einem besonderen, grünen Muttermal geboren wurde. Mit und durch dieses kann sie alle, die ihr quer kommen, verfluchen -
 was sie auch ausgiebig tut, bis…

Algernon Blackwoods „Smiths Untergang“ erzählt vom Ende einer Stadt, die deren Gründer mehr als mitnimmt.

In Anna Alice Chapins „Drachental“ zwingt ein Zugunfall zwei Frauen der gehobenen Gesellschaft, eine Entscheidung zu treffen - die eine ist eine Diebin, die andere liegt im Sterben.

Tudor Jenks „Phantomschmerz“ zeigt uns eine bizarre Situation: Ein Geist kommt mit Zahnschmerzen zu einem Zahnarzt, der ihm helfen soll. Doch wie nur, ist der Geist doch nicht stofflich.


Man sieht, für Abwechslung und Unterhaltung ist reichlich gesorgt. Probieren Sie es doch einmal, Zeit für die Lektüre von Kurzgeschichten findet sich in Wartezimmern, der S-Bahn oder der Mittagspause immer.