Neil Gaiman Bibliothek: Mordmysterien (Comic)

Neil Gaiman Bibliothek
Mordmysterien
(Neil Gaiman Murder Mysteries, 2002)
Aus dem Amerikanischen von Gerlinde Althoff
Titelillustration und Zeichnungen von P. Craig Russell
Farbe von Lovern Kindzierski
Panini, 2010, Hardcover, 68 Seiten, 12,95 EUR, ISBN 978-3-86607-933-5

Irene Salzmann

Ein Engländer, den seltsame Albträume und ein Gefühl, ihm wäre etwas genommen – oder gegeben? – worden, plagen, erinnert sich an ein Schlüsselerlebnis, doch deuten kann er es nicht: Als junger Mann hielt er sich einige Tage in Seattle auf und besuchte eine Bekannte, in die er sehr verliebt war. Wieder bei seinem Hotel angelangt, fehlt ihm ein Teil der Erinnerung. Während er auf einer Bank sitzt, raucht und grübelt, bittet ihn ein alter Mann um eine Zigarette und bedankt sich dafür mit einer – mit seiner! – Geschichte, die sich am Ende als Parabel entpuppt.

Lange bevor es Menschen gab, herrschte Gott in der Silberstadt über die geschlechtlosen Engel, die damit beschäftigt waren, Reue, Liebe, Tod und andere Zustände zu erschaffen. Eines Tages wird der Racheengel Raguel geweckt und damit beauftragt, einen schrecklichen, noch nie dagewesenen Vorfall zu untersuchen: Ein Engel wurde ermordet! Raguel spricht mit den Engeln, die Carasel näher kannten. Nicht jeder scheint ihm gern zu antworten, aber dem Rächer des Herrn, kann sich keiner widersetzen. So findet Raguel heraus, dass Carasel an der Liebe gearbeitet und sich anschließend einem neuen Projekt, dem Tod, gewidmet hatte. Die intensive Beschäftigung damit blieb nicht ohne Folgen, denn er fand einen Liebsten, den er dann wieder aufgab – und der ihm aus Eifersucht den Tod brachte. Aber noch mehr als das deckt Raguel auf, und dieses Wissen verstört ihn sehr. Viele Zeitalter sind seither vergangen, Raguel ist immer noch der Rächer des Herrn, aber viel gnädiger als damals …

Wie man es von Neil Gaiman gewohnt ist, lässt er den Leser einen Blick in die Abgründe der menschlichen und nicht-menschlichen Seelen werfen. Die dahinterstehende Geschichte und Aussagen werden jedoch nicht auf dem Silbertablett serviert, vielmehr muss man selbst das Puzzle aus Hinweisen, Metaphern und Vermutungen zusammensetzen, um zu erfahren, was sich zugetragen hat und wie man die Geschehnisse interpretieren kann. Dabei bedient sich er Autor dreier Erzählebenen: Zunächst erlaubt der namenlose Protagonist einen Blick auf seine Gegenwart, doch hinter dem familiären Idyll verbirgt sich etwas, das er selber nicht fassen kann, das er fürchtet. Er weiß nur, etwas ist ihm widerfahren, und so erinnert er sich an eine schicksalhafte Nacht, in der er liebte, vergaß und eine wundersame Geschichte hörte. Diese ist der eigentliche Kern, und die Ereignisse, die man als den ‚ersten Sündenfall‘ (noch vor der Verletzung von Gottes Gebot durch Adam und Eva) bezeichnen könnte, werden in der mittleren Rahmenerzählung reflektiert. Aus Liebe wurde ein Mord begangen, und den Täter ereilte die gerechte Strafe. Aber war sie wirklich gerecht? Sollten die Motive nicht Einfluss auf das Strafmaß haben, vor allem wenn der Mord aus Liebe geschah?

Neil Gaiman stellt durch Raguel Gott – der dies zuließ, der alles sogar eingefädelt hat –, seine Autorität und ethischen Prinzipien infrage. In Folge erscheint Luzifer, der sich bereits von den anderen Engeln sowohl optisch als auch durch sein Verhalten abgrenzt und nun richtig durcheinander ist, nicht als der Böse schlechthin sondern differenziert als Zweifler, der nach der reinen Liebe, Gerechtigkeit und Wahrheit sucht, diese Werte aber pervertiert sieht, später darüber sein Vertrauen in Gott verliert und fällt.

Konkrete Antworten gibt der Autor nicht. Er überlässt es dem Leser, sich in die Rollen der Beteiligten zu versetzen und zu entscheiden, ob er glauben möchte, dass alles, einschließlich übelster Untaten, seinen Zweck hat und Gottes ‚großem Heilsplan‘ dient oder ob die sinnlosen Gräuel die Skepsis gegenüber den Zielen des allmächtigen Wesens wecken sollten. Durchaus kann man darin eine Allegorie auf bestehende Zustände, auf die Ohnmacht des Individuums gegenüber der Allmacht der Obrigkeit sehen. Einst musste Raguel Gottes Befehl gehorchen (Theos, griech., bezeichnet den handelnden Gott des „Alten Testaments“) und zeigte Reue, nachdem er den überführten Engel gerichtet hatte. In Seattle scheint Gott fern, er greift nicht ein (Deus, lat., definiert den passiven Gott des „Neuen Testaments“), und Raguel trifft selbst eine Entscheidung.

Ob man nun eine unterhaltsame Story sucht oder höhere Ansprüche stellt und sich mit den philosophischen Ansätzen darin auseinandersetzen möchte – keiner wird enttäuscht. Ist man zudem mit Neil Gaimans Werken vertraut, weiß man, dass unter dem Mantel einer faszinierenden Geschichte keine leichte Kost verborgen ist.

Für die gelungene grafische Umsetzung konnte P. Craig Russel gewonnen werden, der bereits einige andere Geschichten Neil Gaimans adaptierte, darunter „Coraline“ und „Sandman“, aber auch bekannte Comic-Helden wie „Dr. Strange“ und „Daredevil“ und viele mehr zeichnete. Die Gestaltung der Graphic Novel verdient ebenfalls der Erwähnung: Hardcover im Comic-Format, Kunstdruckpapier, minimalistisches und dadurch stimmungsvolles Titelbild. Knapp 70 Seiten mögen nicht viel sein, aber die Geschichte ist in sich abgeschlossen, man braucht keinerlei Vorkenntnisse, qualitativ rangiert sie deutlich über dem Durchschnitt – und so ist der Band die rund 13,00 EUR wahrlich wert.