Lucinda Riley: Der Engelsbaum (Buch)

Lucinda Riley
Der Engelsbaum
(Not Quite an Angel, 1995, überarbeitete Ausgabe: 2014)
Aus dem Englischen von Sonja Hauser und Ursula Wulfekamp
Goldmann, 2014, Taschenbuch mit Klappenbroschur, 614 Seiten, 9,99 EUR, ISBN 978-3-442-48135-4 (auch als eBook erhältlich)

Von Irene Salzmann

Wales, 1985/1986: Greta Marchmont kehrt nach vielen Jahren auf das Anwesen ihres verstorbenen Mannes zurück, das nach einem verheerenden Brand wieder aufgebaut wurde. Sie hofft, sich endlich an ihr früheres Leben erinnern zu können, das sie seit einem schweren Unfall vergessen hat. Weder erinnert sie sich an ihre Familie und Freunde noch an das, was ihr zugestoßen ist. Als sie bei einem Spaziergang auf das Grab eines kleinen Jungen stößt, kommen die Erinnerungen Stück für Stück zurück, vielleicht zu spät, um ihr wenigstens eine glückliche Zukunft zu ermöglichen.

London, 1945: Greta Simpson träumt davon, Karriere als Schauspielerin zu machen. Als Varieté-Tänzerin hält sie sich über Wasser. Hals über Kopf verliebt sie sich in einen amerikanischen Offizier und verbringt mit ihm, nachdem er ihr die Ehe versprochen hat, eine einzige Liebesnacht. Danach ist er fort und Greta schwanger. Sie vertraut sich ihrem besten Freund und Kollegen David Marchmont an, nicht ahnend, dass er seit ihrer ersten Begegnung in sie verliebt ist. Seine Zuneigung ist so groß, dass er sie in einem Cottage auf dem Anwesen seiner Familie unterbringt und seine Mutter LJ bittet, in dieser schwierigen Zeit ein Auge auf den Gast zu haben.

Zufällig lernt Greta den Besitzer des walisischen Guts kennen, Davids Onkel Owen. Obwohl er ihr Vater sein könnte und er ihre Geschichte kennt, heiratet er sie und nimmt die Zwillinge als die seinen an. Vor allem den kleinen Jonny, den er als seinen Erben betrachtet, liebt er abgöttisch. Als das kränkelnde Kind im Alter von nur drei Jahren stirbt, ertränkt Owen seinen Kummer im Alkohol. Notgedrungen flieht Greta mit ihrer Tochter Cheska nach London, um erst zur Beerdigung ihres Mannes kurz zurückzukehren und zu erfahren, dass er in all den Jahren zutiefst bereut hat, sie benutzt zu haben, um sich an LJ zu rächen, die während des Krieges drei Jahre gewartet und dann seinen Bruder geheiratet hatte.

Erneut ist es David, inzwischen ein erfolgreicher Komiker, bei dem Greta in London Unterstützung findet. Er macht sie mit seinem Agenten bekannt, der die vierjährige Cheska vom Fleck weg für einen Film engagiert. Wovon Greta immer geträumt hatte, wird nun für das Kind wahr. Doch Cheskas steile Karriere hat auch ihre Schattenseiten: Durch den Tod ihres Bruders ist sie traumatisiert, und die harten Anforderungen am Set tun ein Übriges, um ihre ohnehin schon labile Psyche weiter zu zerrütten. Da eine Auszeit oder schlechte Publicity das Ende von Cheskas Popularität bedeuten würde, gerade in der heiklen Übergangszeit vom Kinder- zum Teenie-Idol, ignoriert Greta alle Warnsignale und versorgt ihre Tochter mit Tabletten.

Ihr Einfluss auf Cheska beginnt zu schwinden, als diese einen Film mit dem gefeierten Sänger Bobby Cross zu drehen beginnt. Der junge Mann macht sich die Verliebtheit der naiven 16jährigen zunutze und lässt sie kurz vor der Uraufführung des Filmes schwanger sitzen. Zwar findet das Mädchen bei seiner Mutter Halt, aber die Wahrheit, dass Bobby im Geheimen bereits eine Familie hat und sie nie heiraten wird, will Cheska nicht akzeptieren. Die von den Medikamenten bislang unterdrückte Krankheit bricht nun hervor und gipfelt in mehr als nur einer Wahnsinnstat…

Lucinda Riley bedient sich bei „Der Engelsbaum“ des bewährten Prinzips, eine Gegenwartshandlung zu schaffen, in der die Protagonisten mit den Konsequenzen aus Geschehnissen fertigwerden müssen, für die sie oder ihre Eltern und Großeltern in der Vergangenheit verantwortlich waren. Was sich damals ereignete, wird Stück für Stück aufgerollt und erklärt, wie es überhaupt zu der aktuellen Situation hatte kommen können. Bereits in ihren anderen Romanen, zum Beispiel „Das Orchideenhaus“ und „Die Mitternachtsrose“, folgte sie diesem Schema, im Wechsel das Jetzt und die Jahre davor zu schildern. Kennt man bereits einige Bücher der irischen Autorin, die mehrere Jahre in Fernost verbracht hat und nun in England lebt, weiß man, was einen erwartet: ein komplexes Familiendrama, das in England und teilweise an mehr oder minder exotischen Orten spielt und Ereignisse miteinander verknüpft, die eine Zeitraum von knapp einhundert Jahren und somit die Schicksale von wenigstens drei Generationen abdecken.

In „Der Engelsbaum“ beginnt alles mit Greta Simpson, die, obwohl sich das große Glück direkt vor ihrer Nase befindet, stets an die falschen Männer gerät und darum ihren Traum von einer Schauspielerkarriere begraben muss. Schließlich macht sie ihre Tochter Cheska zum Mittelpunkt ihres Daseins und ermöglicht es dem Kind, ein internationaler Leinwandstar zu werden und Cheska das Leben führen zu lassen, welches Greta eigentlich für sich gewünscht hatte. Auch als Jugendliche soll das Mädchen die Arbeit immer priorisieren und Geld verdienen, um unabhängig zu sein und nicht wie die Mutter immer wieder unter Armut leiden zu müssen und auf schlechte Männer hereinzufallen.

So wird Cheska die traditionelle Rolle des ‚armen, reichen Kindes‘ unter der Fuchtel der ‚skrupellosen, ehrgeizigen Sklaventreiber-Mutter‘ aufgenötigt – die konkreten Anspielungen auf Liz Taylor machen deutlich, wer die Vorbilder waren. Früh machen sich bei dem Mädchen psychische Probleme bemerkbar, die durch Medikamente, aber auch durch Momente des Glücks vorübergehend eingedämmt werden. Natürlich wiederholt sich die Geschichte, denn Cheska lässt sich von einem Teenie-Idol verführen mit allen nur erdenklichen schrecklichen Folgen. Nach der Geburt ihrer Tochter Ava und der scheinbaren Erholung in einer Klinik überlässt Cheska das Baby der Obhut von LJ und David, die für Ava praktisch (Groß-) Mutter und Onkel sind – Greta liegt zu diesem Zeitpunkt im Koma. Cheska rächt sich an Bobby und setzt ihre Karriere in den USA fort.

Anders als Greta und Cheska entwickelt sich Ava zu einer bodenständigen jungen Frau, die keinerlei künstlerische Ambitionen hegt und Tiermedizin zu studieren beginnt. Sie freundet sich mit Simon an, einem sechs Jahre älteren Studenten, der auf seinen Durchbruch als Künstler hofft und Songwriter werden möchte. Das Idyll wird jäh getrübt, als Cheska nach Jahren, in denen der Kontakt nahezu abriss, plötzlich auftaucht, um ihren sinkenden Stern in der Heimat noch einmal zum Steigen zu bringen. Außerdem ist sie seit ihrer Scheidung und wegen ihres verschwenderischen Lebensstils pleite. Empfand man bislang noch immer einen Funken Mitleid, so verflüchtigt sich dieser spätestens jetzt endgültig, denn Cheska erweist sich als extrem eigensüchtige Blenderin und nimmt bewusst den Schaden Dritter in Kauf um des eigenen Vorteils willen. Da David mit seiner Freundin Tor auf Reisen ist, gibt es niemanden, der die Psychopathin aufhalten kann – und das Unheil nimmt erneut seinen Lauf.

Dabei lässt die Autorin wirklich nichts aus, auch nicht die Bemühungen seitens Cheska, der eigenen Tochter den Freund auszuspannen, Mordversuche und, und, und. „Denver“, „Dallas“ & Co. lassen grüßen, und auch Andeutungen in diese Richtung fehlen nicht. Eigentlich gibt es im ganzen Buch überhaupt keine Überraschungen, weil alles absolut vorhersehbar ist und jedes Klischee, das man aus entsprechenden Romanen und Filmen kennt, abgehakt wird.

Dasselbe gilt für die Protagonisten, die durchaus nachvollziehbare Motive haben: David, der viel zu gut ist, um wahr zu sein, ist stets der Fels in der Brandung für Greta, Cheska und Ava. Aufopferungsvoll kümmert er sich um alle Menschen, die ihm etwas bedeuten, und ausgerechnet diese Personen sind es immer wieder, die ihm Sorgen bereiten und ihn sogar ins Unglück stürzen. Greta ist das typische Opfer einer Gesellschaft, in der es wegen des Kriegs zu wenige Männer gibt, Frauen arbeiten müssen und im Glauben an die große Liebe oder durch den Wunsch, versorgt zu sein, ins Unglück schliddern. Besonders tragisch ist, dass wann immer Greta sich über ihre Gefühle für David klar wird, etwas passiert, das eine Aussprache verhindert. Schließlich tritt eine andere Frau in sein Leben, woraufhin sich Greta zurückzieht. Cheska ist der ‚böse Geist‘, der alles zerstört, was er nicht haben kann. Sie weiß, dass sie Unrecht tut, verspürt aber keine Reue und gibt lieber anderen die Schuld, als der Wahrheit ins Auge zu blicken und Hilfe zu suchen. Mit Ava schließt sich der Kreis zu LJ, die zwar bloß als Nebenfigur, aber zusammen mit Haushälterin Mary auch als Gegenpol zu Cheska fungiert und den ‚guten Geist‘ verkörpert. Nachdem es schon so schien, als würde Ava ebenfalls ein trauriges Schicksal erwarten, sind es gerade ihre Bodenständigkeit und der richtige Mann, die sie retten. Noch zu erwähnen ist Tor, die zwar bloß eine winzige, am Schluss jedoch tragende Rolle innehat.

Wer romantisch-dramatische, ausführlich erzählte Familien-Sagas schätzt, wird an „Der Engelsbaum“ garantiert große Freude haben. Die Handlung wartet mit allen Höhen und Tiefen des menschlichen Lebens und einem glamourösen Milieu auf, die Charaktere erfüllen ihre traditionellen, archetypischen Rollen, die Ahnung des nahenden Unheils sorgt für fortwährende Spannung, und der flüssige Stil von Lucinda Riley macht den Titel auch für jene lesenswert, die schon nach wenigen Seiten alle Zusammenhänge erraten haben. Zielgruppe des Buchs ist in erster Linie das weibliche Publikum, das sich für dicke Schmöker mit solchen Geschichten begeistern kann. Durch die Zeitreise werden Leserinnen ab 60 Jahre angesprochen, die sich noch an die erwähnten realen Kinderstars wie Shirley Temple und Liz Taylor erinnern; aber auch die etwas jüngeren, die in der Rock’n‘Roll- und Beat-Ära aufwuchsen, sowie Teens ab 16, die durch „DSDS“ und ähnliche Sendungen ebenso wie einst ihre Mütter und Großmütter von Romanzen und dem großen Erfolg im gleißenden Scheinwerferlicht träumen, kommen ganz auf ihre Kosten.