Interviews

Im Gespräch mit: Michael Tillmann

Michael Tillmann lebt und arbeitet im Ruhrgebiet. Mit seiner Anthologie „Ein Gänsekiel aus Schwermetall“ legt er nicht nur eine ungewöhnliche Kollektion Horror-Geschichten vor, sondern beweist darin, dass sich der Ruhrpott und Heavy Metal auf sehr eigene Weise verbinden lassen. Unser Mitarbeiter Carsten Kuhr suchte das Gespräch mit dem Autor.

Hallo Michael, könntest Du Dich unseren Leser zunächst einmal kurz selbst vorstellen – was machst Du, wenn Du nicht Deiner Muse freien Lauf lässt?

Der Anfang war Ruhrpott-Klischee: Mein Großvater war Bergmann, mein Vater Stahlarbeiter, ich zuerst Elektriker. Aber Baustellen und viele Kollegen waren mir einfach zu dumpf. Daher folgte Abendschule und anschließend Studium der Umweltwissenschaft (Ökologie, Teilgebiet der Biologie) auf der Uni in Essen. Heute arbeite ich als Qualitätsmanager in der Lebensmittelindustrie. Aber Q-Management ist oft eine sehr, sehr formelle Sache. Daher ist Kunst insbesondere die Heavy-Metal-Phantastik genau der richtige Ausgleich. Hell, yeah!

Hobbies – ich nehme einmal an, dass ich das mit Hard & Heavy, Metal und Thrash nicht arg falsch liege – oder gibt es gar gutbürgerliche Freizeitgestaltungen wie Briefmarkensammeln?

Ich mag sukkulente Pflanzen. Fans dürfen mir also gerne Kakteen schicken!

Machst Du selbst Musik oder bist Du – wie ich – reiner Konsument?

Ich mache keine Musik. ABER ich will ja gerade zeigen, dass Metal mehr ist als nur Musik. Es gibt Metal-Musiker, Metal-Maler (z.B. Andreas Marschall, Michael Hutter) und es gibt Metal-Schriftsteller (zeigt auf!).

Das interessiert mich jetzt auch ganz persönlich, weil ich mit Metal immer NUR Musik verbunden habe – na bis zu deinem Buch – was gibt es da noch, wie unterscheidest Du, was Metal ist, wie unterscheidet sich das Gebotene – also in Kunst, Literatur etc. von anderem – wo ist hier die Grenze, gibt es überhaupt eine, soll es eine Grenze geben?

Metal ist für mich ganz persönlich jede kämpferische, extreme Kunst, die insbesondere nicht beschönigen will, aber gleichzeitig auch nicht so kaputt wie zum Beispiel der Punk ist. Metaler zeichnen sich durch eine gewisse Härte gegen sich selbst aus. Metaler sind nicht wie Punks grundsätzlich gegen die Gesellschaft. Metaler lieben auch die Freiheit, aber sie lehnen nicht Ordnung und Disziplin grundsätzlich ab. Es gibt zum Beispiel kaum Ordnungsprobleme bei großen Metal Festivals wie Wacken. Da meine Meinung ganz persönlich ist, kann ich jetzt niemanden vorschreiben, was Metal ist. Auf Metal-Festivals gibt es ja als „rennenden Witz“ immer so Fragen: Was ist Metal? Ist Duschen Metal? Nein, Duschen ist nicht Metal. Ist Schweinebraten zum Frühstück Metal? Ja, Schweinebraten zum Frühstück ist Metal. Man soll das alles nicht zu ernstnehmen.

Wie kamst Du zur Phantastischen Literatur, was hat Dich hier, als kreativer Mensch, gereizt?

Die Anekdote ist, dass ich als kleines Kind im Radio eine Lesung der Gespenstergeschichte „Die Turmstube („The Room in the Tower“) von E. F. Benson gehört habe und davon für immer geschädigt wurde. Davon aber einmal abgesehen: Ich habe nie wirklich verstanden, warum man überhaupt „realistische“ Kunst machen beziehungsweise konsumieren sollte. Wenn man „realistische“ Geschichten hören will, kann man doch den Friseur des Vertrauens nach Klatsch fragen.

Und warum dann die Zuwendung zur Weird Fiction? Was reizt Dich an dem Genre Horror?

Ich schreibe doch gar nicht nur Horror. Alle Spielarten der Phantastik sind bei mir vertreten: Horror, Fantasy, Science Fiction und Utopie. Dazu komm noch ein kräftiger Schuss abgedrehter Surrealismus, der aber einfache Gemüter oft irritiert. Und noch etwas Politik. Heavy Metal halt.

Lebst Du hier Phantasie, Aggressionen und Frustrationen aus?

Wenn man ganz genau hinsieht, dann wird man feststellen, dass sehr viele meiner Geschichten einen ironischen Unterton haben. Es ist zwar ein ganz bitterer Humor, aber letztlich bin ich doch ein Humorist. Also was soll das mit dem Ausleben von Aggression und Frustration? Diese Frage solltest Du lieber einem katholischen Geistlichen stellen, haha.

Gibt es Deiner Meinung nach genügend Publikationsmöglichkeiten für Autoren des Horror-Bereiches – wir haben mit ja einige einschlägige Verlage die sich hier bemühen, den Autor zu seinem oder ihrem Leser zu bringen?

Lasst uns ganz ehrlich sein! Es gibt noch viel mehr Verlage, aber die entscheidende Frage ist nicht, ob es genug Veröffentlichungsmöglichkeiten gibt. Die entscheidende Frage ist doch die Bezahlung. Es wird in der Szene viel zu wenig über Geld gesprochen! Niemand würde auf die Idee kommen und zum Beispiel einen Elektriker fragen, ob er nicht mal eine Leitung umsonst verlegen möchte. Aber von Künstlern wird oft erwartet, dass sie umsonst arbeiten. Solche Veröffentlichungsmöglichkeiten gibt es wie Sand am Meer. Wenn man aber wegen Geld nachfragt, dann kommt das übliche Geheule: „Ach, Du musst das doch bitte verstehen! Wir sind doch nur so ein ganz kleiner Verlag... blah, blah, blah…“ Natürlich! ABER Heyne, Suhrkamp und Co. waren auch früher nur so ganz kleine Verlage, bevor die Verleger investiert haben. Gute Autoren gibt es genug. Mutig Verleger-, Unternehmernaturen sind aber absolute Mangelware!

Du sprichst das Thema Bezahlung an – ist es aber nicht so, dass eben die Kleinverlage zumeist gar nichts an den Büchern verdienen, dass Boris und Co Idealisten sind, die talentierten Künstlern und Autoren eine Veröffentlichungsmöglichkeit geben? Wenn sie da Tantiemen und Honorare bezahlen, dann würden die Bücher so teuer, dass keiner sie mehr kaufen würde – ein Teufelskreis?

Ja, Boris macht alles für mich, was er kann. Aber trotzdem sehe ich die Sache grundsätzlich nicht ganz so wie Du. Schau bitte in Verlegerbiographien! Ja, alle berühmten Verleger, die große Verlagshäuser aufgebaut haben, waren absolute Idealisten. Aber sie hatten gleichzeitig auch einen unternehmerischen Willen und den sehe ich bei vielen kleineren Verlagen wirklich nicht. Warum geht niemand hin und baut so Leute wie zum Beispiel den schätzenswerten Malte S. Sembten langsam auf? Dass man mit deutschen Phantastik- und Science-Fiction-Autoren Geld, viel Geld, verdienen kann, zeigen Schätzing, Eschenbach, Heitz, Hohlbein, Meyer und Funke. Wiiiiie viiiiiele Beweise braucht es denn noch, bevor der deutsche Kleinverleger aufhört zu heulen? Wer mit einem Autor Geld verdienen will, der muss auch erst einmal Geld in den Autor investieren. Das ist so, als ob ein Elektromeister investiert und sich einen Lieferwagen, eine Werkzeugkiste, eine Bohrmaschine und so weiter kauft. Und die Werbung nicht vergessen! Da kommen schnell weit über 50.000 Euro zusammen. Aber kein Handwerksmeister würde so heulen, wie viele Kleinverleger. Denn er weiß, dass es nicht anderes geht! Leute, es geht nicht anders!

Neben den cirka vierzig in Magazinen und Anthologien zerstreuten Geschichten gab es bis jetzt nur zwei kleine, inzwischen vergriffene Broschüren von Dir („Das Grinsen im Labyrinth“ bei Goblin Press und „Mein Fleisch wird brennen“ bei Medusenblut). Der „Gänsekiel aus Schmermetall“ bei Medusenblut ist Dein erstes richtiges Buch. Warum kam da nicht schon früher mehr?

Darüber habe ich auch lange drüber nachgedacht. Ich glaube, es fehlt mir schlicht und einfach der finanzielle Anreiz. Wenn aber genug Leute mein Zeug kaufen, dann werde ich meine Meinung sicher noch ändern, haha. Sind wir realistisch: Wenn man die wenigen Superstars (ich gönne es ihnen) unter den Autoren einmal ausklammert, dann ist es doch so, dass der durchschnittliche Akademiker (zumindest im Bereich der Natur- und Ingenieurswissenschaften) einfach mehr verdient als der normale Schriftsteller. Ich habe einfach kein Bock, ein Hungerleider zu werden. Schau Dir doch nur die Kurzbiographien in vielen Büchern und Magazinen an! Die sind immer so schwammig, dass man nie eine Antwort auf die Frage bekommt: Lebt der von seiner Schreibe oder arbeitet der noch nebenbei in der Fabrik oder auf dem Schlachthof? Einige Autoren schreibe sogar nur Funbiographien nach dem Motto: Ich bin ein Außerirdischer vom Mars und bring der Menschheit Spaß. Was soll diese verdammte Scheiße? Oder ist das Feigheit? Oder ist das Scham vor der Wahrheit? Aufruf an alle Autoren: Spielt kein Versteck! Sagt ehrlich, was Sache ist! Nur so können wir das Thema Bezahlung vorantreiben.

Gab es Vorgaben von Seiten Medusenbluts was den Umfang oder Inhalt anbetraf, oder hattest Du freie Hand?

Ich hatte nahezu freie Hand. Zuerst wollte ich auch noch eine Science-Fiction-Story für den Band schreiben, aber Boris wollte keine reine SF in seiner Edition dunkler Phantastik. Insgesamt war es, von der Verzögerung abgesehen, 1A mit Boris! (Ich befürchte, dass dieser Kommentar zu einer weiteren Flut von unverlangten Manuskripten führen wird. Sorry, Boris!)

Das tolle Cover von Heinrich Kley spiegelt den Inhalt ja kongenial wider. Wie seid ihr auf das Bild gekommen – wem ist die Entdeckung zu verdanken?

Okay, die Anekdote zum Bild kurz und vereinfacht zusammengefasst: Krupp wollte sich für sein Büro ein Bild malen lassen. Der Industriemaler Kley bekam den Job. Doch was Krupp nicht wusste: Kley arbeitete nebenbei für Phantastikmagazine. Entsprechend fiel das Bild zu „heavy“ für Krupps Geschmack aus. Krupp ließ es daher bei seinem leitenden Angestellten aufhängen. Doch auch der fand es zu „heavy“. Nach einer Irrfahrt landete das Bild schließlich im Keller. Erst im 21.Jahrhundert wurde es von einem Kunsthistoriker wiederentdeckt. Der brachte die Story dann in die Zeitung. Ich schlag am Frühstückstisch die Zeitung auf, sehe das Bild, greife zum Telefon und rufe bei Boris an: „Boris, ruf mal beim Kruppmuseum an! Ich habe das Bild für unser Buch gefunden.“

In deinen Geschichten widmest Du Dich ganz unterschiedlichen Themen – da wird Bezug auf die Kirche genommen, Zyniker kommen zu Wort, aber auch eine fast märchenhafte Geschichte um einen Samurai findet sich zwischen den Buchdeckeln. Wo und wie findest Du Deine Themen?

Als Naturwissenschaftler lehne ich jede Art von Religion strickt ab. Dass insbesondere die monotheistische Religion (also Judentum, Christentum und Islam, also die „Religionen aus der Wüste“) mehr Probleme schaffen, als sie vorgeben zu lösen, ist ein Thema, dass mich immer schon psychologisch fasziniert hat. Wie kann man sein Leben an Fantasien von heiligen Geistern und Engeln hängen, die man nicht beweisen kann? Warum haben gerade religiöse Menschen eine solche Angst vor dem Tod und erfinden daher solch peinliche Hilfskrücken wie die „unsterbliche Seele“ und das „Himmelreich“? Bei vielen anderen meiner Geschichten verstehe ich auch selber gar nicht, warum mich diese Themen interessieren. Beispiel Samurai-Story: Warum lieben viele Leute, die auf Gothic stehen, auch die japanische Kultur, obwohl es doch eigentlich kaum Berührungspunkte gibt? Außer vielleicht die Ästhetik des Grauens, die Gewalt als Mysterium. Man kann es kaum erklären. Man kann nur seinen künstlerischen Gefühlen folgen. Ein weiteres Hauptthema von mir ist die Ebene. Ebenen werden in der Literatur sträflich benachteiligt. Immer nur Berge und Hügel. Nie aber Ebenen. Außer ein paar eisige Hochebenen bei Lovecraft und ein paar Moore fällt mir nichts ein. Dabei finde ich Ebenen megagruselig. Man beachte bitte unter anderem meine kommende Geschichte in „Exodus“ 27. Danke!

Willst Du Deine Leser schocken, provozieren oder zum Nachdenken anregen? Oder schreibst Du die Geschichten in erster Linie für Dich selbst?

Ganz früher hätte ich geantwortet, dass ich die Leute aufrütteln will. Aber diese Zeiten sind vorbei. Ich habe den Glauben an die Menschheit definitiv verloren. Wir stecken zum Beispiel bereits mitten in der Klimakatastrophe, aber die Leute fahren selbst in Großstädten mit ausreichendem ÖPNV lieber mit dem Auto zur Arbeit. Sie steigern die Nachfrage nach Benzin, aber schimpfen gleichzeitig auf die Bohrtürme von BP. Wie dumm ist das denn? Nicht die Industrie ist primär schuld. Schuld ist der Kunde, welcher der Industrie die ganze Wichse abkauft. Man kann auch ohne Mikrowelle und Spülmaschine leben. Ich will ja nicht Viking-Metal-mäßig zurück ins Mittelalter, aber oft ist doch weniger Konsum mehr Lebensqualität.

Wie fühlst Du Dich jeweils, wenn Du eine Geschichte vorbereitest, während dem Schreiben und wenn Du sie beendet hast?

Wie nach dem Sex, nur besser.

Der Ruhrpott – was bedeutet Deine Heimat für Dich?

Ich lebe nur noch aus privaten Gründen hier. Wenn die nicht wären, würde ich sofort flüchten. Denn so wie das Ruhrgebiet im Moment ist, finde ich es total scheiße. Als ich gehört habe, dass das Ruhrgebiet 2010 Kulturhauptstadt geworden ist, habe ich mir fast vor lauter Lachen in die Hose gepisst. Ich war als Elektriker vor dem Studium in einigen Sozialbrennpunkten im Ruhrgebiet auf Kundendienst und hatte auch früher sonstigen Kontakt nach unten gehabt. Ich kenne die Klientel, die dort wohnt. Wie schrieb schon Dante Alighieri: „Lasst, die ihr eintretet, alle Hoffnung fahren!“ Ich erwarte aus diesen Kreisen keinerlei Eigeninitiative und warne vor Sozialromantik. Wenn hier keine wirklich fette Bildungsoffensive kommt, dann kann sich das ganze bekackte Ruhrgebiet mit seinen Industrieruinen lebendig beerdigen lassen! Aber statt für Bildung zu sorgen, haben sich unser Politiker ja lieber um das Durchpauken der Loveparade gekümmert… Manchmal möchte ich kotzen! Kotzen möchte ich! Nur eine Sache ist wirklich cool hier: Das Ruhrgebiet ist eine der wichtigsten Keimzellen des teutonischen Metals (vgl. „Kumpels in Kutten. Heavy metal im Ruhrgebiet“ (Boschmann Verlag) von Dr. Schmenk und Dr Krumm). Eine weitere sehr lobenswerte Kultureinrichtung im Ruhrgebiet ist der Gelsenkirchener Filmclub BUIO OMEGA, den ich hoffentlich an dieser Stelle herzlich grüßen darf?

Gibt es Vorbilder und wenn ja, was bewunderst Du an dem Autor?

Koji Suzuki ist nahezu genial. Die Leute, die nur die „Ring“-Verfilmungen gesehen haben, verstehen oft gar nicht, dass Suzuki anhand des Video-Virus zeigt, dass sich Meme (Gedankeneinheiten) genau so verhalten wie Gene (biologische Einheiten). Suzuki hat also aus den Theorien des Genetikers Richard Dawkins („The Selfish Gene“) eine Romanserie gemacht! Eine solche Umsetzung naturwissenschaftlicher Überlegungen in die Belletristik, dass hat selbst Isaac Asimov nicht geschafft, obwohl der Autor UND Biologe war. Da ich ja Autor und Ökologe bin, kann ich vor Suzuki nur den Hut ziehen und mich ganz, ganz tief verbeugen. Ein wirklich ganz großer Mann. Ein Titan! Er wird niemals den Nobelpreis bekommen. Aktuell habe ich noch durch das Buch „Das Äquinoktium der Wahnsinnigen“ den Autor Anatol E. Baconsky für mich entdeckt. Baconsky ist, ganz vereinfacht gesagt, der Thomas Ligotti Osteuropas. Wer auf Kafka steht, der wird auch Baconskys Roman „Die schwarze Kirche“ lieben.

Vielen Dank für das Interview. Wir wünschen Dir für die Zukunft alles Gute.


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