Ian Tregillis: Der kälteste Krieg (Buch)

Ian Tregillis
Der kälteste Krieg
(The Coldest War)
Aus dem amerikanischen Englisch übersetzt von Christian Jentzsch
Titelillustration von Dirk Berger
Deltus.de, 2014, Paperback, 462 Seiten, 13,95 EUR, ISBN 978-3-940626-19-6 (auch als eBook erhältlich)

Von Carsten Kuhr

Einst waren sie Hitlers Geheimwaffe im Krieg gegen die Alliierten. Die Agenten der REGP, der Reichsbehörde für die Erweiterung germanischen Potentials. Mit ihren mittels elektrischer Kraft des Götterelektrons potenzierten paranormalen Gaben hätten sie Europa, ja die Welt erobern können, doch der Einsatz britischer Warlocks, der Sturm von Lenins Elitetruppen und nicht zuletzt persönliche Eitelkeiten hatten den Traum vom Endsieg letztlich unter großen Opfern auf allen Seiten beerdigt.

Jetzt gehört ganz Kontinentaleuropa bis hinter Paris den Russen, die bei ihrer Invasion auch zwei Agenten, die Geschwister Klaus, der durch feste Materie gehen kann, und Gretel die die Zukunft sieht, gefangennehmen konnten. Dank ihrer Hilfe konnten sie tief in Sibirien ihre eigenen paranormalen Agenten ausbilden und deren Fähigkeiten fortentwickeln.

Als Gretel und Klaus nach London fliehen, gerät das europäische Machtkarussell in Bewegung. Längst pensionierte Agenten des MI 6 von der legendären Abteilung Milkweed werden reaktiviert, ohne auf ihre seelischen Leiden, die der damaligen Kampf und der Preis, der für die Hilfe der Eidola zu bezahlen war, Rücksicht zu nehmen.

Wieder einmal scheint es zur Rettung des Empires und dem Wohl seiner Bewohner unabdingbar, Unschuldige zu opfern, scheint der Gegner doch weit überlegen.

Doch wieviel davon ist Wirklichkeit und wieviel der Geschehnisse geht auf die geschickten Manipulationen von Gretel zurück, die ihre Auseinandersetzung mit dem britischen Agenten Marsh auf eine neue Ebene führt? Doch noch wichtiger scheint die Frage: Was will Gretel wirklich – denn nichts weniger als die Vernichtung der Welt scheint bevorzustehen...

Ian Tregillis ist ein Autor, der die Bilder seiner, gegenüber dem ersten Band zum Teil markant veränderten Charaktere, mit einem sehr feinen Pinsel zeichnet. Mit einigen wenigen Sätzen stellt er uns seine Gestalten so intensiv und einfühlsam vor, dass wir meinen, diese seit Langem zu kennen. Fast unnötig zu erwähnen, dass diese sich dann rollenkonform und im Einklang mit ihren porträtierten Wesenszügen verhalten.

Überhaupt ist es eine Freude, dem stilistisch sehr versierten Autor in der vorzüglichen Übersetzung von Christian Jentzsch zu folgen. Die Seiten blättern sich wie von selbst um, die packende, intelligente Parallelwelt-Handlung zieht den Leser förmlich in den Plot hinein. Mit großer Akkuratesse vermittelt uns der Autor ein Bild des durch den Eisernen Vorhang geteiltes Europa, das nach wie vor unter dem vergangenen Krieg und seinen Folgen leidet.

Besonders intensiv hat er sich mit der zerrütteten Beziehung Marshs beschäftigt. Wer selbst einmal eine solche schmerzhafte Trennung durchlebt und durchlitten hat, der erkennt sich mühelos wieder. Die Verzweiflung, die Sehnsucht nach verlorener Harmonie und Zuneigung, das Verletztsein und der unbändige, durch nichts zu bremsende Drang der oder dem Anderen weh zu tun, werden überaus treffend und gleichzeitig einfühlsam beschrieben.

Man kann dieses Buch mühelos als rasanten, paranormalen Thriller lesen. Gleichzeitig aber ist dies auch ein Buch, in dem der Autor sich mit und über Fragen wie Schuld und Sühne, Verantwortung und das Leben an sich Gedanken macht.

Kann man Entwicklungen, einmal begonnen überhaupt aufhalten, oder kann man nur versuchen, die Folgen für sich wie andere zu minimieren? Wo beginnt die Verantwortung für sich, sein Handeln aber auch gegenüber der Gesellschaft und wo hört sie auf? Was sollte man bereit sein für das Gemeinwohl zu opfern, wo sind die Grenzen, wo Menschen oder Staaten die Legitimität ihrer Handlungen verlieren? Das alles sind Fragen, die der Autor unauffällig aber sehr differenziert und intelligent anschneidet.

So ist dies, mehr noch als der erste Teil, ein Buch, das die Intelligenz des Lesers fordert, das dazu anregt mit- und nachzudenken, sich selbst und seine Handlungen – real wie fiktiv – zu hinterfragen und Stellung zu beziehen.

Es bleibt als Fazit, dass Ian Tregillis ein sehr intelligentes Buch vorgelegt hat, ein tiefschürfendes Buch, das zudem bestens und stilistisch sehr ansprechend zu unterhalten weiß.