Lynn Raven: Seelenkuss (Buch)

Lynn Raven
Seelenkuss
Titelbild: Zhang Jingna
cbj, 2013, Paperback mit Klappenbroschur, 576 Seiten, 14,99 EUR, ISBN 978-3-570-16295-8 (auch alseBook erhältlich)

Von Irene Salzmann

Seloran, die Königin der Korun, lässt einen mysteriösen Gefangenen von nicht minder geheimnisvollen grauen Kriegern foltern. Als Réfen, Hauptmann der Garde, davon erfährt und den Unbekannten in seinem Gefängnis aufsucht, beschließt er, den Unglücklichen zu befreien, denn was ihm angetan wird, ist unmenschlich. Er bittet Selorans Schwester Darejan, seinen Freunden, die an dem Unternehmen beteiligt sind, Informationen zukommen zu lassen, aber der Plan wird entdeckt, Réfen gefangengenommen und Darejan zusammen mit dem Befreiten von den undurchsichtigen Leuten mitgenommen.

Die Flucht wird jedoch durch Magie vereitelt, und viele der Helfer sterben. Darejan und der Namenlose, der keine Gelegenheit erhält, sich von den erlittenen Qualen zu erholen, müssen sich alleine durchschlagen. Manchmal finden sie Freunde, dann wieder geraten sie an Verräter und Selorans Handlanger, denen sie bloß knapp entkommen können. Darejans Schützling kann sich an nichts erinnern, ist jedoch davon überzeugt, dass ihm die Prinzessin etwas Schlimmes angetan hat, ja, er bezeichnet sie sogar als Mörderin. Aber er hat keine andere Wahl, als ihre Hilfe anzunehmen, und außer Hass ist da noch ein anderes Gefühl. Darejan ergeht es nicht viel anders. Der Mann macht sie zornig und traurig, trotzdem will sie, dass ihm geholfen wird – und damit Seloran, die nicht mehr sie selbst ist.

Um die ganze Tragweite der Geschehnisse zu erfassen, braucht Darejan lange. Zu lange. Auch sie hat vieles vergessen, die Erinnerungen und ihre Magie kehren bloß langsam zurück, während sie nach einem Land sucht, das nur noch aus Legenden bekannt ist, und Unterstützung von Kriegern erhofft, die vielleicht schon nicht mehr existieren.

Mehr zu verraten, würde so manches Überraschungsmoment zerstören. Tatsächlich wartet der Roman mit zahlreichen Details und unerwarteten Wendungen auf, wenngleich das Glück der Protagonisten oft schon zu groß ist, um noch glaubwürdig zu sein. Wann immer sie in eine Falle tappen, helfen plötzlich auftauchende Freunde oder der Zufall aus der Misere. Hinzu kommt, dass sich zwar der mysteriöse Unbekannte bis fast zum Schluss an nichts erinnert, doch Darejan hat regelmäßig Träume, die den erfahrenen Leser früh auf die richtige Spur lenken.

Das sind auch die Schwachpunkte des Romans: Der Protagonist ist so sehr in seiner Trauer, die er nicht genau erklären kann, gefangen, dass er seinen Kameraden, insbesondere Darejan, keine Chance gibt, sich mit ihm auszusprechen. Die Prinzessin wiederum braucht viel Zeit, um eins und eins zusammenzuzählen und lässt sich überdies von ihrem Schützling ständig abwimmeln, wenn ein Gespräch notwendig wäre. Beiden wurde die Erinnerung genommen, sie haben Träume und zögerlich zurückkehrende Bruchstücke an Wissen, nutzen diesen Umstand jedoch nicht. Infolgedessen machen sie sich das Leben unnötig schwer auf einer schier endlosen Flucht, auf der sich nicht so viel ereignet, dass es für die Handlung relevant wäre. Stattdessen wird bloß das Ende aufgeschoben, und das Ergebnis ist ein Buch, das hätte gewinnen können, wäre es um die Hälfte gekürzt worden.

Vielleicht war die lange Reise sogar das Hauptaugenmerk der Autorin und weniger die Auflösung. Bei der Lektüre denkt man unwillkürlich an George R. R. Martins „Das Lied von Eis und Feuer“ beziehungsweise „Game of Thrones“ und hat Daenerys Targaryen (auch wenn sie blond und Darejan schwarzhaarig ist) vor Augen, die viel Leid erfährt und umherzieht, bis sie frei ist von denen, die sie gängeln, und eine Armee aufstellt, um ihre Rechte einzufordern.

Letztendlich ist der Schluss kein Highlight, denn man hat diese Entwicklung erwartet. Prompt sind die beiden Hauptfiguren auf göttliche Hilfe angewiesen, mit der einmal mehr einer dieser langweiligen, unlogischen, erzwungen wirkenden Dispute mit einem mächtigen Wesen verbunden wird, die einfach nur nerven (hat nicht jeder genau so etwas als Teenie in seinem vermeintlichen ‚Tolkien-Nachfolger‘ geschrieben, den er dann nur zwei, drei Jahre später mit einem Schauder ins Altpapier entsorgte, um zu verhindern, dass jemand den Quatsch liest?!).

Wie auch immer: Lynn Raven bedient sich gängiger Versatzstücke des Genres, auf die man nicht näher eingehen möchte, um wenigstens ein paar unerwartete Wendungen zu erhalten. Ihre Figuren erfüllen die ihnen zugedachten Rollen in einem Fantasy mit Horror-Elementen, der an „Game of Thrones“ angelehnt zu sein scheint. Das Ende ist keine Überraschung und wirkt fast wie eine Notwendigkeit. Zwar ist „Seelenkuss“ flüssig geschrieben und entbehrt auch nicht einiger spannender Momente, doch das, was wirklich interessiert, kommt zu kurz.