Elisabeth Herrmann: Schattengrund (Buch)
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- Kategorie: Rezensionen
- Veröffentlicht: Donnerstag, 10. Januar 2013 10:56
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Elisabeth Herrmann
Schattengrund
cbt, 2012, Paperback mit Klappenbroschur, 414 Seiten, 14,99 EUR, ISBN 978-3-570-16126-5 (auch als eBook erhältlich)
Von Irene Salzmann
Kurz vor ihrem 18. Geburtstag erfährt Nicola Wagner, dass ihre Großtante Kiana gestorben ist und sie als Erbin eingesetzt hat. Die Hinterlassenschaft entpuppt sich jedoch als große Enttäuschung: ein alter Besen, eine zerrissene Postkarte und ein Stein. Nur wenn es Nico gelingt, das mit den Objekten verknüpfe Rätsel zu lösen, gehört ihr „Schattengrund“, Kianas Haus in Siebenlehen, einem abgelegenen Ort im Harz. Und es kommt noch schlimmer: Die Eltern hatten schon vor dem Notartermin beschlossen, das Erbe in Nicos Namen auszuschlagen, und weigern sich beharrlich, ihre Gründe zu erklären.
Unter dem Vorwand, das Wochenende bei einer Freundin zu verbringen, reist Nico heimlich nach Siebenlehen, das aufgrund heftiger Schneefälle nach ihrer Ankunft vom Rest der Welt abgeschnitten ist. Sie hat Glück im Unglück, denn ihre Zufallsbekanntschaft Leon Urban, ein Geologie-Student, hilft ihr auf mannigfaltige Weise. Leons Familie hatte vor dem Mauerbau die Heimat verlassen, sieht aber regelmäßig in dem heruntergewirtschafteten Gasthaus nach dem Rechten, welches sich Leons Onkel, der in der DDR geblieben war, widerrechtlich angeeignet hat.
Leons Hilfe hat Nico bitter nötig, denn Schattengrund steht seit geraumer Weile leer, es gibt kaum Brennstoff und Vorräte – und die Bewohner von Siebenlehen begegnen Nico äußerst feindselig, wollen ihr nicht einmal die notwendigsten Dinge verkaufen, weil sie ihr die Schuld an einer Tragödie geben, die zwölf Jahre zurückliegt. Nico ist verwirrt und verletzt, denn sie hat keinerlei Erinnerungen an das Geschehen. Doch nach und nach fällt ihr immer mehr ein: Fili Urban, Leons Cousine, war damals ihre liebste Freundin, und sie starb, weil Nico sie im Stich gelassen hatte!
Dass Nico herausfinden will, was damals wirklich passiert ist, stört jemanden gewaltig: Er dringt in Schattengrund ein und vernichtet Dinge, die sein Geheimnis preisgeben könnten. Er versucht sogar, Nico umzubringen…
„Schattengrund“ beginnt kurios und rätselhaft, zieht durch diesen Auftakt den Leser sogleich in den Bann. Infolgedessen sieht er auch gern darüber hinweg, wie leicht Hauptfigur Nico von zu Hause ausreißen kann, wie blauäugig sie während eines Schneesturms eine abgelegene Ortschaft zu erreichen versucht und glaubt, ohne jegliche Hilfsmittel in einem verlassenen Haus einige Wintertage aushalten zu können. Dank Leons selbstloser Unterstützung übersteht sie alle Widrigkeiten und kann sich mit einer Tragödie befassen, durch die ihr Leben, als sie noch ein kleines Kind war, nachhaltig beeinflusst wurde – und die mit dem Tod ihrer Freundin Fili ihren schlimmen Höhepunkt erreichte.
Tatsächlich liegt ein Schatten (nomen est omen) über Nicos Kindheit. Es gibt vieles, was sie nicht mehr weiß, Erinnerungen und Informationen, die von den Eltern bewusst von ihr ferngehalten werden. Aber das Geschehen hat seine Spuren hinterlassen, Nico zu einem in sich gekehrten Kind und Teenager werden lassen, der nur schwer Anschluss an andere findet. Die Rückkehr nach Schattengrund weckt die verdrängten Erinnerungen und hilft ihr, sich selbst und das Verhalten ihrer Eltern endlich zu verstehen. Allerdings geht es ihr schon bald nicht mehr darum zu verarbeiten, was sie damals erlebt hat, sondern Fili Gerechtigkeit widerfahren zu lassen.
Die drei Erbstücke erweisen sich entgegen des Lesers Erwartung nicht wirklich als Dreh- und Angelpunkt für die Auflösung, da sie bloß anfangs die Ereignisse ins Rollen bringen, später aber kaum mehr von Relevanz sind. Andere Objekte, die in Nicos Hände geraten, allen voran eine Zeichnung von Fili, deuten an, dass der damals Sechsjährigen etwas ganz Schlimmes angetan wurde, bevor sie starb. Aber es fehlt der eindeutige Beweis für das Verbrechen – und als Täter kommt mehr als eine Person infrage, auch jemand, dem Nico ihr Vertrauen schenkt.
Nico ist erschüttert. Wie konnte sie Fili vergessen? Weshalb erinnert sie sich an so gut wie gar nichts mehr aus dieser Zeit? Warum wollte ihr niemand die Wahrheit sagen? Weshalb möchte in Siebenlehen niemand erfahren, was wirklich vorgefallen ist? Bevor sie wieder abreist, will sie das Verbrechen, das so viele gern vergessen würden, aufklären; das ist sie Fili schuldig. Obgleich sich Nico bereits durch ihre Anreise während eines Schneesturms und aufgrund ihrer Anwesenheit in Siebenlehen in Gefahr gebracht hat, folgt sie tapfer einer vagen Spur, die zu Filis Sterbeort führt – und vielleicht zu ihrem eigenen.
Die Gefühle der Protagonistin werden glaubwürdig dargestellt, so dass man mit ihr bangt und leidet. Hin und wieder greift die Autorin in die Mystery-Trickkiste, obgleich das nicht notwendig gewesen wäre, um die Handlung in die gewünschten Bahnen zu lenken: „Schattengrund“ schreibt ‚Thriller‘ groß und ‚Mystery‘ so klein, dass man ganz auf die Träume und Visionen, die sich stets zur richtigen Zeit einstellen, hätte verzichten können. Zusammen mit Nico deckt man auf, was vor Jahren geschah. Jene, die davon wussten oder etwas ahnten, hatten weggeschaut, leben seither mit einer schweren Schuld und ihrem Selbsthass, den sie auf Kiana und Nico projizierten.
Das Thema ist unbequem, und als es offen ausgesprochen wird, können sich die Beteiligten nicht länger der Verantwortung entziehen und müssen wählen: weiter leugnen oder sich zu ihrer Schuld bekennen und die Konsequenzen ziehen. Die Autorin hebt zwar nicht den mahnenden Zeigefinger, legt in ihren Roman aber den Wunsch hinein, dass jeder den Mut aufbringen sollte, dem Opfer einer Untat beizustehen und ihm zu helfen, bevor dieses für sich, wie im Buch, nur noch einen Ausweg sieht.
„Schattengrund“ ist eine spannende Lektüre von der ersten bis zur letzten Seite, die sich an Leser ab 16 Jahre wendet und durchaus einen Platz in der Rubrik ‚All Age‘ verdient hat. Ein empfehlenswerter, kritischer Roman, der auch als Schullektüre geeignet ist!
Wer mehr von Elisabeth Herrmann lesen möchte, findet bei cbt einen weiteren Thriller: „Lilienblut“.