Koma 1: Die Stimme der Schlote (Comic)
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- Kategorie: Rezensionen
- Veröffentlicht: Freitag, 20. Juli 2012 10:24
Koma 1: Die Stimme der Schlote
(Koma 1 – La voix des cheminées)
Text: Pierre Wazem
Zeichnungen: Frederik Peeters
Übersetzung: Ulrich Pröfrock
Reprodukt, 2012, Album, 48 Seiten, 12,00 EUR, ISBN 978-3-941099-96-8
Von Frank Drehmel
Zusammen mit ihrem alten Vater lebt die kleine Addidas in einer düsteren großen Stadt, einer steingewordenen Tristesse, in der rauchende Schlote gen Himmel ragen und tiefe Schatten den Unrat und die Kälte der engen Gassen verbergen. Obgleich das Leben an der Seite ihres Vaters, der als illegaler Schornsteinfeger ihr beider Auskommen sucht, hart ist und sie ab und an ihrer verschwundenen Mutter nachtrauert, schaut die Kleine nicht nur mit großen, neugierigen Augen in die Welt, sondern ihr Gesicht ist auch oft von einem Lächeln gezeichnet.
Während Addidas sich mit ihrem kargen Leben und der harten Arbeit – nur sie kann die engsten Schornsteine erklimmen – arrangiert hat, plagen ihren Vater schwere Sorgen, denn die Kleine fällt immer wieder in eine tiefe Ohnmacht, in ein regelrechtes Koma. Aus Angst, nach seiner Frau auch seine geliebte Tochter zu verlieren, konsultiert der Alte einen Facharzt, einen Spezialisten, in dessen Diagnose er alle Hoffnungen setzt. Doch auch der Mediziner weiß keinen Rat, denn zu unerklärlich sind die Ohnmachtsanfälle, während der Addidas jedes Mal Visionen von einem großen affenähnlichen Monster hat, das eine geheimnisvolle, unbestimmbare Maschine bedient.
Eines Tages, das Mädchen macht sich auf eigene Faust an die Arbeit in einem engen, horizontalen Schlot, hört Addidas ein entferntes Schluchzen. Als sie dem Geräusch nachgeht, findet sie sich plötzlich in einer seltsamen Höhle wieder, Auge in Auge mit dem riesigen Ungetüm aus ihren Träumen.
Mit „Die Stimme der Schlote“ haben Autor Pierre Wazem und Künstler Frederik Peters ein Comic geschaffen, das den Leser von der ersten Seite an auf eine magisch-realistische Reise mitnimmt, die zunächst nur von wuchtigen, klaren, leicht holzschnitthaften Bildern getragen wird und in der erst allmählich Text und Dialoge an Bedeutung gewinnen, ohne jedoch die bedrückende Kraft der Bilder in Frage zu stellen.
Die Realität der beiden intellektuell eher einfachen Hauptprotagonisten ist auf den ersten Blick eine in jeder Hinsicht beklemmende; nicht nur die unerklärliche Krankheit der Tochter, das Verschwinden der Mutter oder die harte Arbeit haben Spuren in Gesicht und Geist des Alten hinterlassen, auch die Umgebung an sich, die gleichsam auf sie hereinstürzenden Häuser, die engen Gassen und trüb beleuchteten Kaschemmen, der Unrat und die alles umgebenden Mauern, die jedem suchenden, hoffenden Blick ein unüberwindbares Hindernis sind, zehren an der Lebenskraft des Vaters. Und selbst hoch über den Dächern der Stadt, ist unter dem gelblichen, fahlen Himmel, welchem Myriaden von Dampf- und Rauchfahnen entgegen steigen, keine Freiheit zu finden. Dieser urbanen und absoluten Tristesse stellen Wazem und Peters das kleine Mädchen entgegen; seine Unbeschwertheit, seine Naivität und Spontanität, das kindliche Aufbegehren; seine großen Augen und der oft verschmitzte Gesichtsausdruck scheinen permanent auf eine Realität hinter der offensichtlichen Welt zu verweisen, sodass die Geschichte selbst trotz des deprimierenden Hintergrundes warmherzig, ja fast schon heiter wirkt.
Fazit: Ein kleines, poetisches Meisterwerk: hinter den klaren, bedrückenden Bildern und der auf den ersten Blick einfachen Geschichte erwarten den Leser zwei gefühlvoll gezeichnete Hauptfiguren, deren anrührend emotionale Beziehungen zu keinem Zeitpunkt pathetisch oder gar kitschig daherkommen.