Lavie Tidhar: Bookman – Das ewige Empire (Buch)

Lavie Tidhar
Bookman
Das ewige Empire 1
(The Bookman)
Aus dem israelischen Englisch übersetzt von Michael Koseler
Titelillustration von David Frankland
Piper, 2012, Paperback mit Klappenbroschur, 424 Seiten, 16,99 EUR, ISBN 978-3-492-70242-3 (auch als eBook erhältlich)

Von Thomas Harbach

Mit „Bookman“ legt Piper als durchaus großzügig gesetztes Paperback den ersten Band einer neuen Steampunk-Trilogie (solide, aber ein wenig distanziert übersetzt) vor. Der Roman ist vom in Israel geborenen Autor Lavie Tidhar verfasst worden. Tidhar wuchs in einem Kibbutz auf, bevor er mit fünfzehn zusammen mit seinen Eltern Israel verließ und unter anderem in Großbritannien sowie Südafrika gelebt hat.

Insbesondere sein Aufenthalt in Großbritannien muss ihn stark beeinflusst haben, da die Grundpfeiler seiner Parallelwelt unverkennbar im britischen wie viktorianischen Empire liegen. Insbesondere sein im britischen Verlag PS Publishing publizierter Roman „Osama“ ist für die wichtigsten Preise nominiert worden. „Osama“ ist die provokante Alternativweltgeschichte mit einem obskuren Pulpautor Osama Bin Laden, der im Auftrag einer mysteriösen Frau von einem Privatdetektiv gesucht wird.

„Bookman“ ist nach einer Reihe von ausgezeichneten Kurzgeschichten sein erster Roman, wobei es ihm im Gegensatz zu vielen anderen überwiegend Story schreibenden Autoren durchaus gelungen ist, den Plot über einen längeren Zeitraum zu erzählen. Geschickt überfrachtet der Autor im Grunde seine Geschichte mit vielen bekannten wie markanten Nebenfiguren. Dabei reicht das Spektrum von Mycroft Holmes, Moriarty wie auch Irene Adler über den Schach spielenden „Türken“ bis zu einer möglichen Inkarnation Gilgameschs – und lässt seinen natürlich aus seinem bisher beschaulich langweiligen Leben Zwangsversetzten jugendlich-naiven Helden über sich hinauswachsen.

Ein abschließendes Urteil lässt sich aufgrund des sehr offenen Endes und dem Status als Auftaktband einer Trilogie nicht fällen. Hinzu kommt, dass sich der Autor den Schwächen seines Erstlings und der fehlenden Verbindung Handlung/Hintergrund bewusst gewesen sein muss, denn inzwischen arbeitet er an einer Art Prequel, deren Plot auch Einfluss auf den vorliegenden ersten Band hat.

Seine Steampunk-Welt ist nicht ganz durchdacht. Die Grundprämisse ist, das London und damit die halbe zivilisierte Welt von einer Puppenregierung unter Führung Moriartys regiert wird.

Vor drei Jahrhunderten haben angeblich intelligente, sich vollkommen autark auf einer abgeschieden gelegenen Insel entwickelnten Echsen die Herrschaft übernommen. Vor drei Jahrhunderten hat Amerigo Vespucci diese Kreaturen entdeckt. Im Verlaufe des Romans wird diese von Anfang an unwahrscheinliche These relativiert und Tidhar flieht in ein anderes, dank H. G. Wells fast klassisches viktorianisches Thema: die Invasion aus dem All, wobei der Bogenschlag zum roten Planeten mit einer von Terroristen zerstörten Marssonde eher wie ein MacGuffin erscheint. Nicht nur der erfolgreiche Anschlag auf die Marssonde geht auf das Konto eines geheimnisvollen Terroristen, welcher sich selbst Bookman nennt. Mit explodierenden Büchern sorgt er für nachhaltigeren Schrecken als eine Gruppe von Literaturproleten, zu denen unter anderem der Protagonist der Geschichte „Orphan“ gehört. Während der Bookman seine Opfer zum Teil auf offener Bühne in die Luft jagt, haben Orphan und seine Verbündeten es eher auf Schabernack abgesehen, mit dem sie auf den ersten Blick progressive Autoren wie Oscar Wilde um den Verstand zu bringen suchen. Als Orphans junge Freundin auch das Opfer des Bookman wird und sein einziger Freund – ein alter unter den Londoner Brücken lebender Bettler – ihm einen kryptischen Brief hinterlässt, muss Orphan aus seiner bisherigen unpolitischen Idylle in der Vorratskammer eines kleinen Buchladens ausbrechen und sich im Grunde als Einziger dieser existentiellen Bedrohung stellen. Auf seiner Jagd nach dem Bookman und dessen Motiven – während seines Versuchs, Lucys Tod zu rächen – muss er erkennen, dass natürlich der Fortbestand des britischen Imperiums an einem seidenen Faden hängt.

In Bezug auf die Steampunk-Elemente mit ihrer Mischung aus stringenter Action, die nuanciert und gut über den Handlungsbogen verteilt eingesetzt wird, überzeugt der Roman. Neben dieser einzigartigen britischen Atmosphäre mit entsprechenden Nebenschauern sowie der Mischung aus futuristischer Technik – künstliche Intelligenzen, lebensechte Roboter – und biederer steifer englischer Oberklasse verfügt der Roman aber über zu viele bekannte, zwar auch markante, aber zu wenig wirklich originelle Aspekte, als das man die Geschichte im Vergleich zu George Manns interessanten Kriminalstücken, zu Arbeiten wie „Die Räder der Welt“ oder dem hoch gelobten aber auch mechanisch niedergeschriebenen „Boneshaker“ ohne Vorbehalte empfehlen kann.

Als Autor orientiert sich Tidhar fast zu sklavisch an seinen offen zitierten Vorbildern Jules Verne, H. G. Wells, Sir Arthur Conan Doyle oder Wilkie Collins. Dabei versucht er diese mit teilweise auch in der deutschen Übersetzung zu blumigen, zu überambitionierten wie inhaltsleeren Beschreibungen zu übertreffen, anstatt seine Figuren nachhaltiger, dreidimensionaler und vor allem natürlich zu entwickeln. Wenn der Autor – für den Leser angesichts der markanten Namens „Orphan“ klar ersichtlich – zu Charles Dickens überschwenkt und dem bislang mittellosen wie einfachen aber nicht unsympathischen jungen Mann ein entsprechendes Erbe von Vorfahren zugesteht, die er bislang nicht kannte oder kennen konnte, dann wirkt die Kopie (um nicht so sagen: das Plagiat) perfekt. Hinzu kommt, dass Tidhar die realen Vorbilder zusammen mit seinen fiktiven Figuren ausgesprochen „frei“ benutzt. Wenn der Autor einen Lord Byron aus einer gänzlich anderen Epoche benötigt, wird eine entsprechende „Maschine“ geklont. Wenn die politische Meinung Karl Marx in die Handlung unnötigerweise und vor allem ausgesprochen subjektiv integriert werden muss, findet der Autor einen entsprechenden Kniff, bei dem der Leser eher staunend zurückbleibt als das er diese Erstlingsfehler verzeihen kann. Warum benötigt jeder viktorianische Roman einen Jack the Ripper, nur weil er erstens in London spielt und zweitens aus den dunklen Gassen eine Art Bedrohung kommen muss? Selten ist der wahnsinnige Massenmörder derartig deplaziert in eine Geschichte integriert worden.

Auch vergisst Tidhar, dass es mit Namen alleine nicht getan ist. Insbesondere bei aus anderen Werken bekannte Figuren wie Irene Adler – sie ist eine Polizistin, was der sozialen Etikette des viktorianischen Englands widerspricht – oder im schlimmsten Fall Moriarty, werden weder deren Handlungen noch deren Motive hinterfragt. Noch frustrierender findet der Leser bis auf die Namen so gut wie keine Zusammenhänge zwischen Tidhars Figuren und Doyles Schöpfungen. So ist Moriarty im Grunde nur ein Handlanger der Echsen und kein kriminelles Genie mehr. Seine Figur wird nicht nur dadurch entwertet, sein Auftritt gegen Ende des Buches ist höflich gesprochen belanglos. Andere fiktive Charaktere wie Jules Vernes Robur haben einen kurzen Auftritt, der weder der originären Figur im Angesicht des Schöpfers entspricht noch den grundlegenden Plot bereichern. Der einzige Zweck dieser Cameos scheint es zu sein, die Cleverness des Autors zu unterstreichen und den Leser aus Tidhars fiktiver Welt zu reißen, damit er in Erinnerungen schwelgen kann. Es gibt eine Reihe von frustrierenden weiteren Beispielen.

Sein wichtigster Protagonist, Orphan, durchläuft eine im Grunde klassische, aber auch klischeehafte Entwicklungsgeschichte. Er wird von einem Jungen zu einem Mann; seine Vergangenheit wird aufgedröselt und wenn Tidhar in ihm eine Art King Arthur des viktorianischen Zeitalters sieht, zerfällt der Plot unter den staunenden Augen der Leser endgültig in seine Einzelteile. Die Idee der Suche nach einer auf den ersten Blick für ihn verlorenen Liebe wird schließlich fallengelassen. Hinzu kommt, dass der „Tod“ sympathischer Figuren in Tidhars Universum nicht für die Ewigkeit ist.

Nur selten funktionieren die emotionalen Versatzstücke, kann der Leser an diesen stellenweise seltsam passiven Charakter – seine ganze den zweiten Teil dominierende Quest ist eine reine Manipulation, auf zu vielen Zufälligkeiten aufgebaut -Sympathien verschenken. Dieser bleibt eine Art Chiffre, welcher der Autor für seine Handlung benötigt, die aber Charles Dickens widersprechend austauschbar ist. Wie alle Figuren, die große (wenn auch überwiegend fiktive Namen) tragen. Die Figur des Bookman reduziert der Autor von einem anarchistischen Terroristen mit einem perfiden Humor zu einer Art Außenseiter der Echsenrasse, die viel zu menschlich erscheint. Wenn ein Piratenkapitän sich als weiteres Mitglied dieser heimlichen Herrscher entpuppt, überspannt Tidhar den Bogen zu sehr und negiert diesen eher humorvoll biederen, handlungstechnisch viel zu langen und zu wenig effektiven Abschnitt der Quest.

Trotz dieser zahlreichen wie frustrierenden Schwächen, die für einen Erstling signifikant sind, liest sich „Bookman“ oberflächlich sehr flott und Tidhars Beschreibungen sind absichtlich cineastisch. Tidhar versucht mit dem ersten Buch seiner Trilogie im Grunde zu viel. Er bedient leider exzessiv die Klischees des Steampunk-Genres; versucht Alan Moore und dessen Liga der außergewöhnlichen Gentlemen durch den Einsatz von historischen wie fiktiven Figuren zu folgen und will gleichzeitig eine ambivalent nutzbare Geschichte um fiese außerirdische Invasoren und ihre Herrschaft erzählen. Wie bei einer Zwiebel schält er Absolutismen der ersten Buchhälfte und präsentiert eine Variation der Ereignisse. Insbesondere die ominöse „Marssonde“ beginnt ein Eigenleben zu führen, wird erklärungstechnisch in der großen Verschwörungstheorie hin und her geschoben und schließlich wie andere Aspekte des Buches abrupt abgewickelt.

Als Roman erscheint „Bookman“ zu uneinheitlich. Szenen anarchistischen Humors wie die Gedankenterroristen oder der weise, im Notfall entsprechende Tagebuchaufzeichnungen hinterlassende Ratgeber Gilgamesch wechseln sich mit mechanisch geschriebenen ActionSzenen ab. Die Piraten-Episode könnte direkt aus einer SF-Version der populären Johnny-Depp-Filme stammen und offeriert den gleichen kindisch-kindlichen Humor. Zu viele Fragen bleiben für den Auftaktband einer Trilogie unbeantwortet und umfangtechnisch wird viel Verpackung aber wenig Substanz angeboten. Da „Bookman“ eineaugenblicklich ausgesprochen kommerzielle Literaturwelle reitet, gibt es ohne Frage besser durchdachte und geschriebene Alternativen. Es bleibt die Hoffnung, dass der Mittelteil der Trilogie origineller und eigenständiger werden wird. Das Potential ist nicht zuletzt aufgrund der für das Steampunk-Genre originellen Variante außerirdischer „Herrscher“ hinter den viktorianischen Kulissen und der Sehnsucht der Engländer nach einem neuen, wahren König da, es wird bislang aber zu wenig vom Autor gehoben.