Justine Larbalestier: Lügnerin! (Buch)

Justine Larbalestier
Lügnerin!
(Liar, 2009)
Aus dem Amerikanischen von Kattrin Stier
cbt, 2011, Hardcover, 296 Seiten, 16,99 EUR, ISBN 978-3-570-16077-0 (auch als eBook erhältlich)

Von Irene Salzmann

Micah Wilkins ist Schülerin, Farbige, und sie entstammt schwierigen Familienverhältnissen. Letztere sind der Grund dafür, dass man sie schon früh als Freak und der notorischen Lüge bezichtigt. Das verhindert jedoch nicht, dass sie sich mit ihrem Klassenkameraden Zachery Rubin anfreundet. Sie haben beide große Freude am Laufen und brauchen nicht viele Worte, um einander zu verstehen. Doch dann wird Zach tot aufgefunden, die Polizei ermittelt und stellt auch den Schülern Fragen – Fragen die Micah nicht immer so beantworten will oder kann, wie es die Beamten erhoffen.

Prompt kommt das Geheimnis um ihre und Zachs Beziehung ans Licht. Dabei hatte er schon eine offizielle Freundin! Schon bald macht das Gerücht die Runde, Micah könnte die Mörderin sein. Um wenigstens den Eltern, die sie zu den Verwandten aufs Land abschieben wollen, zu beweisen, dass sie nichts mit Zachs Tod zu tun hat, beginnt Micah, den wahren Täter zu suchen…

Der erste Teil des Buchs, in dem Micah sich selbst, ihre Familienverhältnisse und ihre Sichtweise der Dinge vorstellt, ist ein reiner Psycho-Thriller, der neugierig macht, was passiert ist, wer Zachs Mörder ist und was die Hauptfigur verschweigt. Micah erzählt und spricht den Leser auch direkt an. Es sind kurze Impressionen, die zwischen Vergangenheit und Gegenwart pendeln, so dass sich erst nach und nach ein vages Bild von Micah und ihrem Umfeld ergibt. Dabei verstrickt sie sich – bewusst – immer wieder in Widersprüche und revidiert ältere Aussagen, obwohl sie betont, nicht mehr zu lügen, und gibt für die Unwahrheiten dem Leser die Schuld, weil er zu leichtgläubig sei und bestimmte Dinge hören wolle.Aber auch die Eltern und die Familie, für die Lügen zum Alltag gehören – insbesondere die Familienkrankheit betreffend –, haben ihren Teil dazu beigetragen, dass Micah so Manches erfindet, um Tatsachen zu verschleiern, von sich abzulenken oder auf sich aufmerksam zu machen. Außenstehende erleichtern ihr das, indem sie – wie der Leser – bereit sind, Klischees zu unterstellen, oder nach kuriosen Storys hungern.

Ein Seitenhieb gegen leichtgläubige Personen und solche mit Vorurteilen, die sich mit wenig Aufwand manipulieren lassen – von ihren Mitmenschen, den Medien, der Politik. Doch das ist eine unterschwellige Botschaft, die nicht in den Focus gerückt wird. Stattdessen geht es der Autorin um die Handlung und um das, was der Leser ab 14 Jahre letztlich glauben will. Und das wiederum wird verkompliziert, denn im zweiten und dritten Teil findet ein Genre-Wechsel statt. Unter dem Horror/Urban-Fantasy-Aspekt tritt der Tod von Zach in den Hintergrund, Micahs Geheimnis und die Folgen davon werden näher beleuchtet.

Aber kann oder will man diese Wende glauben? Nach all den Widersprüchen und Lügen? Die Auflösung könnte ebenfalls eine Erfindung sein, denn was Zach zustieß, hätte auch ohne diese Überraschung geklärt werden können, wird es sogar. Fakt ist, dass man ab Teil 2 mit weniger Spannung das Buch verfolgt, da sich die Prioritäten und das Genre verlagern, was nicht notwendig gewesen wäre. Man hat den Eindruck, als wäre die Phantastik dem Roman aufgezwungen worden, dabei hätten viele Leser sicher die Krimi-Handlung bevorzugt, die plötzlich bedeutungslos ist.

„Lügnerin!“ ist durchaus ein bemerkenswertes, spannendes Buch, das die Probleme von Jugendlichen thematisiert, die ihren Platz im Leben suchen, Träume und ein Ziel haben. Doch dadurch, dass die Autorin einen krassen Genre- und Schwerpunkt-Wechsel vollzieht, vergibt sie viele Möglichkeiten auf der Realitätsebene, was so manchen Leser enttäuschen könnte.