Cherie Priest: Boneshaker (Buch)
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- Kategorie: Rezensionen
- Veröffentlicht: Samstag, 25. Februar 2012 12:53
Cherie Priest
Boneshaker
(Boneshaker)
Aus dem amerikanischen Englisch übersetzt von Frank Böhmert
Titelillustration von Nele Schütz Design
Heyne, 2012, Taschenbuch, 508 Seiten, 8,99 EUR, ISBN 978-3-453-52866-6 (auch als eBook erhältlich)
Von Carsten Kuhr
Es ist die Zeit des großen Goldrauschs. Während der Bürgerkrieg nun schon seit Jahrzehnten tobt, werden in den nördlichen Gebieten Amerikas und Kanadas Nuggets auf der Straße aufgelesen, Vermögen im Vorbeigehen verdient – so zumindest weiß es die Gerüchteküche zu berichten. Ganze Horden von Schatzsuchern und Glücksrittern machen sich in den Norden auf. Seattle dient ihnen als Tor zum Reichtum.
Um die in zu Russland gehörendem Alaska vermuteten Goldvorkommen zu erschließen, entwickelt Dr. Levitius Blue in Seattle eine Fördermaschine, den sogenannten Boneshaker. Der erste Testlauf des technischen Monstrums aber gerät zum Desaster. Die ganze Innenstadt Seattles wird vom Boneshaker in Schutt und Asche gelegt, das Bankenviertel versinkt im Untergrund, ein heimtückisches, tödliches Gas steigt auf, das die Toten zu neuem, hungrigem Leben erweckt. Rund um das Stadtzentrum wird eine hohe, undurchdringliche Mauer errichtet, um die Gase und die Leichen fernzuhalten.
Sechzehn Jahre später setzt die eigentliche Handlung des Buches an. Wir lernen die Witwe Dr. Blues, Briar Wilkes, und ihren sechzehnjährigen Sohn Ezekial alias Zeke, wie er sich selbst nennt, kennen. Verunglimpft, verachtet und angefeindet ob der Taten ihres Mannes beziehungsweise Vaters leben die Beiden in ärmlichen Verhältnissen in der Vorstadt. Eines Tages hält Zeke es nicht länger aus – er will mehr erfahren über das, was sich kurz vor seiner Geburt ereignet hat, will den Namen seiner Familie vielleicht gar reinwaschen, versuchen, Schätze zu finden.
Über einen Tunnel dringt er in das zerstörte Zentrum der Stadt ein – und stößt dort auf Menschen, die freiwillig in und mit den giftigen Gasen leben. Immer in Gefahr, entweder den Fressern zum Opfer zu fallen oder, sofern seine alte Gasmaske den Geist aufgibt, dem Fraß ausgesetzt zu werden, sucht er den Weg zum alten Heim seiner Familie. Auf seiner Odyssee begegnen ihm zwielichtige Gestalten, merkwürdige Gesellen und Hinweise darauf, dass sein Vater vielleicht noch leben könnte. Der Drogenring, der sich aus der kommerziellen Verwertung des gelben Gases herausgebildet hat, wird von einem Dr. Minnericht geleitet, einem Mann, dessen Gesicht keine Handvoll Lebender jemals gesehen hat, ein Mann, der als technisches Genie gilt, ein Mann, der mit eiserner, ja brutaler Hand über das Zentrum regiert – ein Mann aber, bei dem es sich vielleicht um seinen Vater handeln könnte.
Zur gleichen Zeit macht sich Zekes Mutter auf, ihrem Sohn zu folgen und ihn zu retten. Mit einem Luftschiff lässt sie sich, nachdem ein Erdbeben die unterirdischen Tunnel verschüttet hat, absetzen und macht sich auf die Suche nach ihrem Sohn. Dabei kommt es ihr zupass, dass ihr Vater während der Katastrophe unter dem Opfer seines eigenen Lebens die Gefängnisinsassen gerettet hat, und sie nun auf die Dankbarkeit der einstigen Insassen und ihrer Freunde zählen kann.
Auf unterschiedlichen Wegen nähern sich die Beiden dem alten Bahnhof, in dem Dr. Minnericht sein Hauptquartier aufgeschlagen hat…
Was ist das für ein Roman, der schon lange vor seinem Erscheinen hohe Wellen geschlagen hat? Ausgezeichnet unter anderem mit dem Locus Award, auf den Vorschlaglisten des Hugo und Nebula war er ebenfalls vertreten, wurde der von Frank Böhmert mustergültig übersetzte Text bereits mit vielen Vorschusslorbeeren bedacht.
Oberflächlich betrachtet erwartet den Leser eine gelungene Synthese aus Steampunk und Zombieroman. Wir befinden uns in einem alternativen Seattle. Der Sezessionskrieg hat einen anderen als den bekannten Verlauf genommen, lähmt das Land weiterhin und verhindert dessen wirtschaftliche Gesundung. Mit dem Boneshaker, den dampfbetriebenen Gewehren, Luftschiffen und künstlichen Gliedmaßen sowie weiteren aberwitzigen Erfindungen des Doktors hält der technische Aspekt des Steampunks Einzug, die wandelnden Fresser sorgen für eine Stimmung, die mich unwillkürlich an die Filme aus der Werkstatt George A. Romeros erinnert haben.
Durch die Augen des naiven Zeke und über die Erinnerungen und Erlebnisse seiner Mutter nähern wir uns von zwei Seiten dem phantastischen Handlungsort und dessen Geschichte an. Es geht um das Mysterium, was wirklich vor 16 Jahren passiert ist, aber auch darum, warum Menschen sich freiwillig dafür entscheiden, unter den lebensfeindlichen Bedingungen im Zentrum zu bleiben. Dass all diese Gestalten ihre Gründe dafür haben, sich vor der sogenannten Zivilisation unter die Gasmasken zurückzuziehen, dass es sich um Unikate handelt, macht sie nur interessanter.
Tief verborgen unter all diesen faszinierenden Details aus Handlungsort und Gestalten aber erwartet den Leser etwas ganz Anderes. Es geht um die Beziehung einer Mutter zu ihrem Sohn. Lange, zu lange, hat sie die Vergangenheit, aus guten, wohlmeinenden Gründen, vor ihm verborgen gehalten, hat kein Vertrauen in ihr eigenes Kind gezeigt. Nun, nachdem Zeke selbst aufgebrochen ist seine Wurzeln zu suchen, ist sie gezwungen sich selbst, ihren Erinnerungen und Gefühlen zu stellen. Ähnlich wie der naive Zeke macht sie auf ihrer Reise durch das vergiftete Zentrum eine faszinierende Entwicklung durch. Sie muss sich nicht nur den realen Gefahren der tödlichen Umgebung, ihrer Jäger und der Fresser stellen, sondern sich auch mit den Folgen der Taten ihres Großvaters und ihres Mannes auseinandersetzen. Tief durchdrungen sind diese Beschreibungen mit der deutlich spürbaren Liebe der Mutter zu ihrem Sohn. Für ihn ist sie erst bereit, sich mit ihrer Vergangenheit auseinanderzusetzen. Dabei ist sie beileibe keine schwache Frau. Sie versteht es mit dem Gewehr umzugehen, stellt sich den Fressern mutig in den Weg. Zusammen mit zwei anderen Frauen, die ihr Leben bewusst im Zentrum leben, beherrscht sie als Charakter den Text. Das sind keine Abziehbilder schwacher Mütterchen am Herd, das sind interessante, starke Persönlichkeiten die mit ihren Schicksalen, ihrem Mut und ihrer Opferbereitschaft den Leser beeindrucken.
Es bleibt abzuwarten, ob es der Autorin in den Fortsetzungen gelingt, an die hohe Qualität dieses Romans anzuknüpfen. Vorliegendes Werk aber stellt für mich eines der Buch-Highlights des Frühjahrs dar.