Andreas Brandhorst: Das Artefakt (Buch)

Andreas Brandhorst
Das Artefakt
Umschlaggestaltung: Nele Schütz Design
Heyne, 2012, Paperback, 656 Seiten, 14,99 EUR, ISBN 978-3-453-52865-9 (auch als eBook erhältlich)

Von Thomas Harbach

Mit „Das Artefakt” legt Andreas Brandhorst eine bislang serienunabhängige Space Opera vor, die seine markanten Stärken als Autor leider mit seinen Schwächen als Plotentwickler und stringenter Erzähler verbindet.

Der Hintergrund seiner Geschichte ist faszinierend, wenn auch teilweise in den Zeiten des Golden Age begründet. Vor vielen Jahren hat die angesichts kosmischer Dimensionen noch „junge” Menschheit eine Katastrophe verursacht, die viele von Außerirdischen bewohnte Planeten vernichtete. Es dauert sehr lange, bis Andreas Brandhorst Protagonist Rahil Tenneritt stellvertretend für den Leser seinem neuen „Sidekick” etwas mehr aus der Vergangenheit der Menschheit berichtet. Davor wird Rahil Tenneritt nach seinem Tod während einer wichtigen Mission wieder erweckt und als Klon mit einem bis zu seinem Unfall vollständigen Gedächtnis ausgerechnet auf die Welt zurückgeschickt, auf der sich bislang sein Schicksal erfüllt hat. Heraklon gilt seit mehr als fünfhundert Jahren als Musterbeispiel menschlichen Pazifismus. Noch wenige Jahre müssen die Menschen überstehen, bis sie in den Kreis der Hohen Mächte und deren unbegrenztem Wissen zurückkehren können. Ausgerechnet in dieser kritischen Zeit wird auf Heraklon ein unbekanntes Artefakt gefunden, das einen Zugang zu Wissen verspricht, welches erstens den Enzyklopädien der Hohen Mächte ebenbürtig ist, aber viel wichtiger nicht mit derartig vielen Auflagen verbunden ist. Rahil Tenneritt soll das Geheimnis des Artefaktes lüften, bevor andere es tun.

Wie schon angedeutet ist der grundlegende Plot ausgesprochen stringent. Im Gegensatz zu den zahlreichen Suchen, die Andreas Brandhorsts Romane bestimmt haben, steht ein im Kern unmöglicher Auftrag im Mittelpunkt. Natürlich gerät Rahil schon auf dem Weg nach Heraklon in zahlreiche Schwierigkeiten und wie ebenfalls nicht anders zu erwarten, ist er nicht alleine auf seiner Suche. Ihm wird ein eher naiver, vom Hass auf die Hohen Mächte und ihre Politik der Nichteinmischung gezeichneter junger Außerirdischer zur Seite gestellt. Viel wichtiger ist, dass ihn ein ehrenhafter Söldner verfolgt, der mit allen Mitteln verhindern muss, dass Rahil überhaupt Heraklon und damit das Artefakt erreicht.

Während der Auftakt des Buches ausgesprochen kompakt geschrieben ist und der Leser zusammen mit Rahil die wichtigsten Fakten der Mission erfährt, verzettelt sich der Autor insbesondere im Mittelteil. Natürlich ist es spannungstechnisch opportun, seinem Protagonisten fast überwindliche Hindernisse in den Weg zu stellen, aber Andreas Brandhorsts Schreibstil ist nicht zum ersten Mal zu gesetzt, zu wenig variabel, als dass er einen Augenblick mit den eher solide als inspiriert geschriebenen Actionszenen eine dynamische Dramatik erzeugen kann.

In der zweiten Hälfte des Buches sich im Grunde an den unbegrenzten Möglichkeiten des Artefakts entlang hangelnd gelingt es ihm deutlich besser, Spannung zu erzeugen und die Grenzen seines überzeugend entwickelten Universums besser auszutesten. Andreas Brandhorst verlangt von seinen Lesern teilweise zu viel Geduld, wenn er immer weiter ausholend eine Zwiebelschale nach der anderen um seinen Plot legt. Manches wäre weniger deutlich mehr gewesen.

Auch inzwischen eine Art Synonym seiner Romane ist neben der „äußeren” Reise eine innere Auseinandersetzung, nicht selten mit den Fehler der eigenen Vergangenheit. Mit Rahil verfügt der Autor über einen fast schon vom Schmerz des Verlustes gezeichneten Protagonisten, der sich um die eigene innere Leere zu bekämpfen im Grunde zu einem immer wieder zu duplizierenden Klon hat umwandeln lassen. Wie der Leser später durch Rückblenden ausführlicher erfährt, hat er seine jüngere Schwester durch eigene Naivität zumindest vordergründig verloren. Denn anscheinend gibt es in Brandhorsts Zukunft nur einen selbst gewählten Tod, alles andere ist kopierbar. Auch auf der persönlichen Ebene neigt der Autor ein wenig zu sehr zur Übertreibung, denn neben der Wunde des Verlustes seiner Schwester begegnet er später seinem Vater, den er nie wie in einer richtigen Familie kennen gelernt hat. Es ist selten, dass der Funke von Brandhosts Charakteren wirklich zum Leser überspringt und Rahil ist keine Ausnahme. Damit das vielleicht ein wenig überraschende, aber auch optimistische Ende überhaupt nachhaltig funktionieren kann, ist es wichtig, Rahil als Menschen kennen zu lernen. Dazu reichen aber die vorhandenen Beschreibungen nicht aus, als Charakter bleibt das im Grunde willenlose Werkzeug irdischer Mächte bis auf die emotional solide geschriebenen Rückblenden blass. Unwillkürlich hat der Leser eher das Gefühl, als befände er sich in einem überdimensionalen „Schwermetall”-Comic als in einem tiefergehenden Roman. Einzig die ehemalige Geliebte/Kameradin Rahils, die sich schließlich nach mehreren hundert quasi unsterblichen Jahren von der intergalaktischen Bühne zurückgezogen hat, gibt den Figuren eine schmerzlich vermisste Tiefe. Der Rückzug vom aktiven Dienst bedeutet nicht nur den Verlust der Quasi-Unsterblichkeit, sondern beschleunigter Zerfall der Zellen. Weitere Figuren sind trotz des Versuchs, sie möglichst fremdartig zu beschreiben, in ihren teilweise vorhersehbaren Handlungen zu sehr vertraut, als sie in einer fernen Zukunft wirklich überzeugend erscheinen.

Wie in allen seinen Romanen – siehe insbesondere in letzter Zeit „Die Stadt” – sind es die exotischen und farbenprächtigen Hintergründe, die „Das Artefakt” trotz der angesprochenen Schwächen zu einem weitestgehend zufrieden stellendem Lesevergnügen machen. Die Mischung aus Fremdartigkeit und Vertrautheit funktioniert. Vor allem kombiniert der Autor eine kaum noch in ihren Einzelheiten zu verstehende Zukunft mit eher einfachen Ideen, wie einem gigantischen Fahrstuhl zu den Sternen.

Mit dem Artefakt hat Brandhorst mehr als eine Art MacGuffin geschaffen, es wird im Verlaufe des Showdowns nicht nur zu einem integralen Bestandteil des Plots, sondern zu einer Art Gradmesser, an dem sich mehr als Rahils Zukunft entscheidet.

Brandhorst ist ein extrem visueller Erzähler, der gerne anhand von griffigen Beispielen dem Leser seine Zukunftswelt vorführt. Hier sei nur der Vergleich zwischen der augenblicklich den Menschen zugänglichen interstellaren Bibliothek und dem Wissen der Hohen Mächte expliziert erwähnt. Auf der anderen Seite hat die Visualität aber auch negativ zur Folge, dass sich der Autor in seiner Schöpfung verliert und insbesondere Rahil verstärkt die Tendenz zu geschwätzigen Monologen in sich trägt. Am Ende wünscht sich der Leser vielleicht ein wenig mehr Dynamik und weniger Exkurse, aber die Auflösung des eigentlichen Plots – es ist früh ersichtlich, dass Rahil im Grunde nur ein Werkzeug und die Motive hinter der Bergung des Artefaktes sehr viel komplizierter und komplexer sind, als er es zu wissen braucht – ist insbesondere im Vergleich zu einigen Bauerntricks, die eine Reihe von kürzlich publizierten Space Operas aufweisen, deutlich vielschichtiger, wenn auch aufgrund des zum wiederholten Male zu belehrenden Untertons manipulierender.

In einem Universum ohne endgültigen Tod ist es leichter, Figuren wiederzubeleben, was rückblickend „Das Artefakt” weniger ausbalanciert erscheinen lässt als es dem Roman gut getan hätte. Vor allem Rahils Trauer um die durch seine Schuld umgekommene Schwester wirkt gegen Ende emotional aufgesetzt und zu stark manipulierend, da Brandhorst auch hier eine entsprechende Lösung präsentiert. Vielleicht wäre es effektiver gewesen, Rahils Wunde zu belassen und ihn so zu einem etwas zugänglicheren Protagonisten werden zu lassen.

Qualitativ ist „Das Artefakt” eine Steigerung gegenüber dem schwachen Mystery-Thriller „Äon” und im Vergleich zu den letzten „Kantaki” Bänden weniger übertrieben ambitioniert konstruiert, dafür aber angenehm fließender strukturiert und durchdachter erzählt.