Erik Simon (Hrsg).: Zeitgestrüpp oder Die Räder von Himmel und Erde (Buch)

Erik Simon (Hrsg.)
Zeitgestrüpp oder Die Räder von Himmel und Erde
Titelbild: Tais Teng
Verlag Torsten Low, 2023, Taschenbuch, 380 Seiten, 16,90 EUR

Rezension von Gunther Barnewald

Die vorliegende Anthologie ist zweifellos eine der besten SF-Story-Sammlungen der letzten Jahre, denn Erik Simon ist es gelungen, einige der besten und interessantesten Autoren (vor allem aus Deutschland) hier zu versammeln. So finden sich Kurzgeschichten von Oliver Henkel, Karsten Kruschel, Rolf Krohn, Angela und Karlheinz Steinmüller und Heidrun Jänchen in diesem bemerkenswerten Band.

Aufgabe war es, Geschichten zu erzählen, in denen alternative historische Abläufe geschildert werden, oder deren Auswirkungen auf die Gegenwart. Wozu auch oft Zeitreisen der Auslöser sein können.

Diese hoch komplexe Ausgangslage wird von den meisten Autoren mit Bravour gelöst (zumindest 16 der 18 Geschichten überzeugen). Lediglich die beiden Storys von Przemyslaw Zanko und dem Autorenteam Irina Andronati/Andrej Lasartschuk lassen hier leider sehr zu wünschen übrig. Der Rest ist jedoch durchgängig wirklich lesenswert bis sehr gut.


So gibt es eine wunderbar lakonische Erzählung von Angela und Karlheinz Steinmüller zum Auftakt über frühe Formen des Tourismus im antiken Griechenland und wunderprächtige, heute verschollene Ingenieurskunst.
Eine Geschichte, bei welcher der Schalk der Autoren aus jeder Formulierung blitzt.

Und während bei Karsten Kruschel das Zeitgewebe so stabil ist, dass es jeder Zeitreise stoisch trotzt (zum fatalen Unglück eines jeden Reisenden, denen es noch fataler ergeht als den Protagonisten in R. A. Laffertys legendärer Story „Thus we frustrate Charlemagne“; diese Kurzgeschichte ist somit auch eine grandiose Hommage an diese legendäre Erzählung), erzählt Rolf Krohn von Römern, die dereinst von Aliens auf einen fremden Planeten entführt wurden, und denen es dort gelang, ihr Imperium bis in modernere Zeiten zu konservieren (wenn auch mit „Modernisierungen“).

Bei Oliver Henkel führt nicht Varus die römische Armee zur berühmten Schlacht in den Teutoburger Wald gegen die Truppen des Arminius (Hermann der Cherusker), sondern ein weitaus cleverer und weiserer Heerführer namens Quirinius, der die Schlacht dort für sich entscheidet, da er den Verräter schnell entlarvt und nicht in dessen Falle tappt.

Bei Heidrun Jänchen sind junge Wissenschaftler unzufrieden mit einer nationalen Diktatur in Deutschland und beschließen, eine Zeitreise zum Gründungsparteitag der verhassten Partei zurückzumachen und dort einen Sprengstoff-Attentat durchzuführen. Sie sind erfolgreich, an die Stelle der Getöteten tritt jedoch eine andere neue Partei, die sich NSDAP nennt und von einem gewissen Adolf Hitler angeführt wird...

Auch die längste Erzählung der Anthologie überzeugt: Beim israelischen Autor Pesach Amnuel sind es radikale jüdische Nationalisten, die in der heutigen Zeit auf dem Gebiet der ehemaligen Römer Anschläge verüben, denn die Juden hatten dereinst Rom erobert und waren geblieben, so dass die Welt nur einen zersplitterten Staat der Italier kennt, deren Bewohner vergebens versuchen, den Frieden zu wahren und die einstigen Besatzer zu beschwichtigen und in Schach zu halten. Doch die jüdischen Nationalisten fühlen sich ebenfalls ungerecht behandelt und im Recht, Anschläge gegen die „Aggressoren“ zu verüben, da sie vertrieben werden sollen aus ihrem angestammten römischen Gebiet...
Georgi Malinow wiederum schildert ebenfalls eine invertierte Welt: Christliche Fundamentalisten führen Selbstmord-Attentate gegen aufgeklärte, moderne Muslime durch (also nicht „Allah ist groß“, sondern „Christus ist groß“).

In Gard Spirlins Geschichte fliegen Zeppeline Erkundungsmissionen für einen Sozialistischen Deutschen Staat, der sich in Brüderlichkeit der Sowjetunion angeschlossen hat.

Völlig Verrücktes dagegen erleben Zeitreisende, die in der Geschichte des Herausgebers („Esst mehr Obst“, hier unter Gregor Simsel veröffentlicht) per Zeitmaschine bei Adam und Eva im Paradies anlangen: Hier ist alles wie vor dem Sündenfall und die beiden biblischen Bewohner denken gar nicht daran, vom Baum der Erkenntnis zu naschen...

Die andere unter Gregor Simsel (in diesem Fall Gundula Sell und Erik Simon in Kollaboration) veröffentlichte Kurzgeschichte hat ebenfalls ihre wunderbar skurrilen Momente.

Auch die beiden Geschichten des niederländischen Autors Tais Teng (von dem auch die Cover-Abbildung stammt) sind amüsant zu lesen und sehr clever entworfen, ebenso wie Jewgeni Lukins großartig hemdsärmelig-rotzig geschriebene Story und die des Autorenteams Peter Schattschneider und Peter Skalicky.

Lediglich die „ominöse“ Story des Neandertalers (er nennt sich „Autor der Birkenrindenstreifen“ und man fragt sich als versierter Leser, ob Erik Simon oder Rolf Krohn hier mal wieder ihr Unwesen unter Pseudonym treiben) fällt leider etwas ab, ist aber immer noch lesenswert.


Sieht man also von den beiden Totalausfällen (siehe oben) ab, ist „Zeitgestrüpp oder Die Räder von Himmel und Erde“ eine formidable Anthologie, die aus einem schriftstellerisch schwierigen Thema (wie konstruiere ich eine glaubhafte Alternativwelt) das Beste herausholt und maximales Lesevergnügen garantiert mit einem großen Faktor Sense of Wonder.

Wer intelligente, spannende, gut konstruierte und manchmal sogar witzige phantastische Kurzgeschichten mag, der sollte hier unbedingt zugreifen.