Leigh Brackett: Das lange Morgen (Buch)

Leigh Brackett
Das lange Morgen
(The Long Tomorrow, 1955)
Übersetzung: Hannes Riffel
Carcosa, 2023, Paperback, 284 Seiten, 22,00 EUR

Rezension von Carsten Kuhr

Rund 80 Jahre ist es her, dass Gott die Seinen bestraft hat. Deren unzüchtiges Verhalten, ihre maßlose Gier, die Sünden, die ohne jemals auch nur zu zögern begangen wurden - das alles wurde ihnen vergeben; das reinigende Feuer sorgte dafür, dass ihre reuigen Seelen ohne Sünde in den Himmel Eintritt fanden.

Seitdem ist die Welt, wie man sie kannte, eine andere. Das Leben in den Städten wurde mittels Gesetz verboten, Naturwissenschaften sind verfemt, ein Jeder lebt von der Scholle.

Die fundamentalistischen Priester in Nachfolge der Mennoniten und Amischen wachen streng über die Einhaltung der Gesetze. Wer den Volkszorn erregt, der wird gesteinigt – wie unsere beiden Handlungsträger, Len Colter und sein Vetter Esau, ungläubig miterleben müssen.

Dass sich nicht alle den Gesetzen unterordnen wollen, dass Gerüchte über Bartorstown umgehen, wo man anscheinend das Wissen vergangener Generationen wahrt, wird für unsere neugierigen Burschen zu einer Verlockung, der sie nicht widerstehen können. Zumal Esau ein merkwürdiges Gerät - ein sogenannten Radio -, das dem Gesteinigten gehört hat. Findet… und dieses weckt Begehrlichkeiten in den beiden jungen Männern.


Ein Roman, der eigentlich so gar nicht in seine Entstehungsära passt. Ja, Post-Doomsday-Romane waren Mitte der 50er Jahre en vogue, nur schlägt dieser Roman aus der Feder der wunderbar vielfältig schreibenden Leigh Brackett ungewöhnlich nachdenkliche Töne an. Während Zeitgenossen der Verfasserin den Konflikt mit der UdSSR, der diesen Romanen meist als Grundlage diente, immer als Starthilfe für eine verklärte Darstellung von Gottes erwählter Nation nutzten, erzählt sie uns vom Erwachsenwerden der beiden Hauptfiguren.

Neudeutsch heißt so etwas Coming of Age, und der erstmals unter dem Titel „Am Morgen einer anderen Zeit“ innerhalb der „Utopia-Großband“-Reihe als Band 111 im Jahr 1959 veröffentliche Roman der 1915 in Los Angeles geborenen Autorin erweist sich als nachdenklich und tiefgründig zugleich.

Entgegen der Zeitmeinung hinterfragt Len, ganz im Gegensatz zu seinem Vetter, die Begeisterung für die verbotene Technik, begreift, dass der nukleare Ernstfall die Menschen zu einem Umdenken hätte anregen sollen. Ist die Reaktion, die daraufhin in den USA erfolgt, richtig, die Verteufelung aller Technik, die Herrschaft der Fundamentalisten? Fragen, die eigentlich für einen SF-Abenteuer-Roman, und als solcher war er konzipiert, eher selten waren. Hier geht es um Reflektion, nicht schlichte Verherrlichung eines Konflikts oder der oftmals platten Darstellung einer verrohten Zivilisation nach dem nuklearen Holocaust. Bracket bemüht sich erfolgreich darum, uns beide Seiten vorzustellen - die Stadt und deren Bewohner, die die Atomkraft zurückholen wollen und die ländlichen Bürger, die schlicht Angst vor dieser haben und das Credo „Zurück zur Scholle“ leben. Analog hat auch unser Protagonist seine wunderbar stimmig dargestellten berechtigten Zweifel, welcher Seite er zustimmen soll. Hier der Fanatismus der verbohrten Fundamentalisten, dort der oftmals blinde Fortschrittsglaube – beides ist, das macht die Verfasserin deutlich, zu hinterfragen und anzuzweifeln.

Für die Ausgabe im Carcosa Verlag hat Hannes Riffel, der eigentlich mit der Neuübertragung von Moorcocks „Elric“-Saga (bei Tor erschienen) mehr als ausgebucht hätte sein sollen, den Text wie auch weitere der Carcosa-Novitäten neu in Deutsche übertragen und dabei, wie ich meine, eine vorbildliche Arbeit abgeliefert.

Mit diesem Werk, dem im nächsten Halbjahresprogramm - endlich - ein erster Band mit den Abenteuern Eric John Starks (Titel: „Schwelende Rebellion“) aus der Feder Bracketts folgen soll, legt der Verlag dankenswerter Weise einen eindrucksvollen Roman einer der interessantesten Autorinnen der Goldenen Ära der Science Fiction in werkgetreuer Neuübertragung vor.