Thilo Corzilius: Ravinia (Buch)
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- Kategorie: Rezensionen
- Veröffentlicht: Sonntag, 13. Februar 2011 12:47
Thilo Corzilius
Ravinia
Piper, 2011, Paperback, 400 Seiten, 12,95 EUR, ISBN 978-3-492-26761-8
Von Carsten Kuhr
Wir schreiben den 1. Januar des Jahres. Lara ist seit ein paar Stunden, seit Mitternacht um genau zu sein, sechzehn Jahre alt, und ihr Großvater schenkt ihr zu ihrem Ehrentag nicht nur einen trendigen MP3-Player, sondern auch einen Schlüssel auf dem „Victoria Street, Edinburgh“ eingraviert ist. Ein Schlüssel, der, das weiß sie noch nicht, ihr Leben… interessanter machen wird. Interessanter wie in dem chinesischen Fluch, „mögest Du in interessanten Zeiten leben“, interessanter wie in Verzweiflung, Gefahr und Tod!
Als sie die Wohnungstür, immerhin im zweiten Obergeschoss eines typischen schottischen Stadthauses, mit dem Schlüssel aufsperrt, sieht sie sich überrascht einem kleinen Sträßchen, eben der Victoria Street, gegenüber. Hier findet sie Aufnahme in einer kleinen Werkstatt, in der ein alter Schlüsselmacher und sein findiger Geselle ihre Kunst ausüben. Und hier ergattert sie nicht nur eine Lehrstelle, sondern erfährt auch erstmals davon, dass ihre verstorbenen Eltern auch dem Handwerk der Schlosser nachgingen. Was sich unspektakulär anhört, das hat eine weit tiefere, geheime Dimension. Ihr Lehrmeister, dessen Geselle und auch Laras Eltern zeichnet eine besondere Gabe aus. Sie alle gehören oder gehörten zu einer geheimen Gilde von Begabten, die mit ihren Gaben die Welt beeinflussen können. Hellsehen gehört ebenso dazu, wie die Gabe, mit Wörtern die Realität zu beeinflussen, oder Schlüssel herzustellen, die jede beliebige Tür in ein Tor zu einem anderen Ort verwandeln.
Zunächst steht Lara den Offenbarungen ratlos gegenüber. Das gibt es doch gar nicht, träumt sie, will sie überhaupt in Geheimnisse und Mysterien eingeweiht werden? Doch dann öffnet ein Schlüssel den Weg nach Ravinia, der Stadt der Gilden, und Lara kommt endlich nach Hause.
Hier, an dem Ort, an dem sie ihre ersten Jahre, damals noch zusammen mit ihren Eltern, verbracht hat, stößt sie auf ein altes Geheimnis. Vor Jahren wurde der Herr über die Winde und Schreiber, der sich zum Herrscher über die Welt aufschwingen wollte, in einem Bild eingesperrt. Nun versuchen seine skrupellosen Helfer, ihn wieder zu befreien und erneut an die Macht zu bringen. Angst und Mord gehen um in den Gassen der malerischen Stadt jenseits von Raum und Zeit. Auch Lara wird verfolgt, schlummert in ihrem Blut doch die Schlüssel zum Kerker des Gefangenen…
Eine neue Stimme erhebt sich im großen Kanon der deutschsprachigen Fantasy. Nicht etwa ein weiterer der unsäglichen Völkerromane erwartet den Leser, auf laszive Vampire oder blutrünstige Dämonen wartet man auch vergebens, stattdessen harrt eine feinfühlig aufgezogene, fast märchenhafte Geschichte auf den Rezipienten.
Thilo Corzilius orientiert sich hier an Vorbildern eines Michael Ende, Ralf Isau und Christoph Marzi. Das sind große Namen, die mit ihren Werken abseits ausgetretener Pfade die Phantasie ihrer Leser ein ums andere Mal anregen konnten. Corzelius bewegt sich inhaltlich wie stilistisch in ähnlichen Bahnen. Mit großem Gespür für seine Gestalten, die er wunderbar zeichnet, erzählt er seine Geschichte von Mut und Gefahren, von Enttäuschungen und Hoffnung, von Opfer und Verantwortung. Das berührt den Leser, entführt ihn in eine faszinierend geheime Welt, die gerade weil sie sich nur wenig von der Realität unterscheidet so wirklichkeitsnah wirkt, dass man sich unwillkürlich in diese Welt hineinträumt. Dabei nutzt der Autor bekannte Versatzstücke, nimmt Anleihen bei Märchen und Sagen, um aus diesen seine eigene Mär zu kreieren.
Das überzeugt insbesondere, weil auf grelle Töne und Schockeffekte weitgehend verzichtet wird, liest sich stilistisch sehr angenehm und inhaltlich packend, und dürfte damit als aussichtsreicher Aspirant auf den Deutschen Phantastik Preis feststehen.