Michael Schmidt & Achim Hildebrand (Hrsg.): Zwielicht 18 (Buch)

Michael Schmidt & Achim Hildebrand (Hrsg.)
Zwielicht 18
Titelbild: Björn Ian Craig
2023, Paperback, 298 Seiten, 14,00 EUR

Rezension von Carsten Kuhr

Wie wir dies über die letzten Jahre hinweg gewohnt sind, riefen die Herausgeber, und Autoren wie Übersetzer klassischer Geschichten haben ihnen ihre kürzeren Werke anvertraut. Erneut gab es keine Vorgaben, was den Inhalt oder die Thematik anbelangt; entsprechend vielfältig ist das gebotene Potpourri.

Nicht weniger als 17 erzählende Beiträge sowie zwei Artikel fanden vorliegend Aufnahme. Auffällig dabei, dass die Zahl der Neuentdeckungen klassischer, bei uns bislang unveröffentlichter Preziosen aus dem angloamerikanischen Sprachraum zunehmen. Doch auch die Texte aus heimischer Fertigung wissen inhaltlich wie von ihrer sprachlichen Ausführung her, zu überzeugen.

 

Um was geht es im Einzelnen?

Tobias Lagemann: Rot und rostig“
Eine Rauferei zwischen angetrunkenen Jugendlichen gerät außer Kontrolle. Um die Prügelei zu beenden, zieht einer der Unbeteiligten ein Messer und verletzt seinen Freund am Arm. Als sie sich auf dem nach Hause Weg machen, bemerken sie, dass ein Mähdrescher herrenlos im Feld steht. Ein Mähdrescher aber, der zu untotem im Leben erwacht.
Ein fast schon klassisch zu nennender Aufbau, der ein wenig an die Ausgangssituation von Kings „Christine“ erinnert, dann aber eigene Wege geht.

Christian Blum: „So schreiten keine ird’schen Weiber“
Vier Tunichtgute werden ausgeschickt, ein altes Paar, um seine Kunstwerke zu erleichtern. Eigentlich sollten die Alten im Obergeschoss schlafen, doch als die Diebe das Wohnzimmer betreten, treffen sie dort auf höchst wache Senioren. Als sie das Haus verlassen, liegen beide Rentner im Sterben. Dass diese der Göttin Apollo dienten führt, dazu dass die Verbrecher verfolgt werden.
Kurzweilig und interessant bot sich diese Geschichte an, deren Twist dann den gelungenen Schlusspunkt setzte.

Arthur Machen: „Das Ritual“ (1937)
Eine Besichtigung Londons abseits der großen, touristischen Zentren führt zwei Männer in eine kleine Gasse, in der halbwüchsige Jungs ein uraltes Ritual pflegen - mit drastischen Folgen.
Eine sehr kurze Fingerübung Machens, die sich nett liest, mit seinen besten Werken aber nicht wirklich mithalten kann.

Lisa-Katharina Hensel: „Der Schatten“
Die moderne Medizin ist oftmals ein Segen. Die Verpflanzung von Organen kann Menschenleben retten, oder Blinde wieder sehen lassen. Johanna bekam die Hornhaut einer jungen Selbstmörderin. Zwar kann sie nun wieder sehen, doch sucht sie seitdem ein Schatten heim, ein Schatten, der sie in den Wahnsinn treibt.
Die Heimsuchung einmal ein wenig anders aufgezogen - gut nachvollziehbar wird das Grauen der diffusen Bedrohung vermittelt.

Michael Tillmann: „Reihen von Spukhäusern wie Traumlandschaften“
Was wäre, wenn eine unbegreifliche Macht plötzlich sämtliche echte Spukhäuser der Welt einsammeln, und an einen unbekannten Ort versetzen würde? Ein Mann, der sich Zeit seines Lebens zu den rational Denkenden zählte, kommt in den Ort voller Spukhäuser und muss erkennen, dass ihn selbst hier eine Rolle erwartet.
Eine interessante Idee, aus der der Autor dann aber mehr hätte machen können.

Algernon Blackwood: „Der kleine Bengel“ (1919)
Ein echter britischer Gentleman sieht auf dem Weg zum Zug einen kleinen Jungen, der sich mit einer offensichtlich für ihn viel zu schweren Tasche abmüht. Als er seine Hilfe anbietet, blickt er in zwei strahlende Augen, die ihn an etwas erinnern, was er gerne verdrängen möchte.
Auch diese recht kurze Erzählung berührt uns durch ihren finalen Twist.

Julia A. Jorges: „Zweierlei Blut“
Eine Waise kommt neu in die Klasse. Dass sie offensichtlich körperlich gehandikapt ist, macht sie zur Zielscheibe für Mobbing. Dennoch findet sie zwei Freundinnen; mit denen zusammen sie sich auf Borkum auf die Suche nach ihrer Herkunft begibt - eine Suche, die heftigen Widerstand weckt, eine Suche, die etwas Uraltes aufweckt-
In diesen Beitrag hat die Verfasserin viel hineingepackt, trotzdem wirkt der Plot in sich rund und hat mich gepackt.

Karin Reddemann: „Merkwürdig“
En altes Paar, das sich eigentlich nichts mehr zu sagen hat, und eine Diät mit einem Wundermittel sind die Ingredienzien, die in Verbindung mit dem eigentlich bei der Diät ausdrücklich verbotenem Zucker eine Metamorphose einleiten, die für Viele drastische Folgen hat.
Bitterböse Satire um ein alterndes Paar und den Abnehmwahn.

Laurence Kirk: „Dr. Macbeth“ (1940)
Eine liebenswerte Hommage an Miss Marple erwartet uns in der Suche nach einem Mörder. Junge Frauen, die alle kürzlich ein Verhältnis mit einem angesehenen Londoner Arzt hatten, sterben an Schlaflosigkeit. Die Tante eines der Opfer macht sich, da Scotland Yard nicht weiterkommt, auf, das Mysterium zu lösen.
Für mich das Highlight des Bandes. Eine wunderbar stimmige, atmosphärisch dichte und überraschende Geschichte voller Nostalgie.

Erik Hauser: „Der Allesschluck“
Ein bitterböses Märchen um missbrauchende Eltern und die Rache, die die Kinder mit und dank ihres unheimlichen Verbündeten hinter der Tür nehmen…
Die Geschichte, mit der ich persönlich - vielleicht auch angesichts der Grauen, die wir in den letzten Jahren angesichts Kinderschändungen erleben mussten - am wenigsten anfangen konnte.

Achim Stößer: „Die kleine Schwester des Todes“
Vier Expeditionsteilnehmer sind auf einem Planeten gestrandet. Ein tödlicher Sturm wird erwartet, die Fähre kann jedoch nur zwei, im äußerten Fall drei Menschen befördern - was tun?
SF und Horror - ja, das funktioniert und dies sehr gut und überraschend, auch dies ein Highlight des Bandes.

Jasper Nicolaisen: „Wunsch nach Freundschaft mit den Anglern“
Die Apokalypse hat eine Welt hinterlassen, die den Überlebenden wenig Nahrung bietet. Einer der Überlebenden und sein Hund finden trotzdem etwas zu essen…
Auch dies eine Story, die von der Kulisse her im Bekannten fischt, uns dann aber statt Zombies einen einsamen Mann und seinen Hund zeigt, die ohne Skrupel versuchen zu überleben.

Lennox Lethe: „Die Nächste in der Reihe“
Auf der Kirmes in einem Kaff irgendwo im Nirgendwo steht sie: die Achterbahn schlechthin. Der Coffin (dt. Sarg) begeistert die Vergnügungssüchtigen, die lange anstehen, um in die Särge zu steigen und den Rausch der Geschwindigkeit zu erleben - nur vor dem Platz ganz hinten, sollte man sich hüten…
Wir ahnen, dass etwas nicht mit rechten Dingen zugehen kann - die Auflösung ist dann aber doch unerwartet und überraschend. Gut gelöst.

Winston K. Marks: „Die Körperformer kommen!“ (1955)
Ein Besuch aus der Zukunft trägt für einen Bräutigam tragische Züge. Die jugendlichen Zeitreisenden verbessern die göttliche Schöpfung, mit drastischen Folgen für ihr Opfer…
Ein Beitrag, der mich nicht recht zu überzeugen wusste. Zu vieles blieb angedeutet, der Twist am Finale aber war prima gelöst.

Edward Frederic Benson: „Die Schritte“ (1926)
Die Geschichte führt uns ins ägyptische Alexandria der 20er Jahre. Einer der britischen Geschäftsleute weiß, wie man, wenn man nur skrupellos genug ist, mit dem Geldverleihen und Eintreiben der Sicherheiten Vermögen verdienen kann. Doch eines Tages, heftet sich ein Opfer an seine Fersen.
Auch diese Erzählung hat mich sofort in ihren Bann gezogen. Dem Verfasser gelingt es, uns an die Küste Ägyptens zu entführen und zunächst gewohnte Figuren zu offerieren - um dann das Übernatürliche als zusätzliches Element zu inkludieren.

Émile Erckmann und Alexandre Chatrian: „Die Bienenkönigin“ (1862)
In den Höhe der Alpen lebt sie. Die Rede ist von einem blinden Mädchen, das offensichtlich durch die Augen ihrer geliebten Bienen sehen kann…
Ein leiser, fast behutsamer Beitrag, der mehr verzaubert als dass einem Schauer den Rücken hinunterlaufen würden.

H.G. Wells: „Der graue Mann“ (1895)
Ein bislang bei uns noch unveröffentlichtes Kapitel aus Wells’ berühmtesten Buch, „Die Zeitmaschine“, das dieser auf Verlangen seines Verlegers nachgeschoben hat.
Nicht wirklich überzeugend, kein Wunder, dass das Kapitel in späteren Veröffentlichungen wieder gestrichen wurde.

In dem Artikel „Oh eile, Katze, eil' herbei, und hilf mir bei der Zauberei!“ von Karin Reddemann geht es, wie der Titel andeutet, um die geheimnisvollen Vierbeiner, die Katzen, die als Gefährten von Hexen ebenso bekannt sind, wie als mysteriöse Wesen voller Geheimnisse

Und Jo Piccol zeigt uns in „Exotik, Erotik und Exzess“ die Ästhetik des Unheimlichen im Werk von Hanns Heinz Ewers


Alles in allem ist dies eine sehr abwechslungsreiche Zusammenstellung, die dem Leser wieder jeder Menge Stoff anbietet, die aufrüttelt, gruselt und unterhält; wie gewohnt alles stilistisch ansprechend ohne Durchhänger.