J. Sheridan Le Fanu: In einem dunklen Spiegel (Buch)

J. Sheridan Le Fanu
In einem dunklen Spiegel
Herausgegeben und übersetzt von Michael Siefener
Titelbild: Sabercore23art
Porträt Le Fanu: Timo Wuerrz
Festa, 2023, Hardcover, 502 Seiten, 36,99 EUR

Rezension von Carsten Kuhr

Der Ire Sheridan Le Fanu gilt zurecht als der Meister der Geistergeschichte. In diesem ersten von hoffentlich weiteren Sammelbänden hat der Übersetzer und Phantastik-Kenner Michael Siefener fünf längere Erzählungen versammelt - vier Novellen sowie ein Kurzroman erwarten den Rezipienten.

Verbunden werden diese durch die Behauptung, dass es sich bei den geschilderten Vorkommnissen um Fallstudien eines auf entsprechende Fälle spezialisierten deutschen Arztes, Dr. Martin Hesselius, handeln würde. Insoweit reihen sich die Berichte in die Fallbeschreibungen von William Hope Hodgsons „Carnacki“ oder Algernon Blackwoods „Dr. Silence“ ein.

Das Besondere - zumindest in den ersten Beiträgen - ist, dass uns Le Fanu die Deutung, ob es sich bei den geschilderten Vorkommnissen und Heimsuchungen wirklich um übernatürliche Ereignisse handelt, oder ob diese auf die angegriffene Psyche der Betroffenen zurückzuführen sind, überlässt. Er positioniert hier nicht, beide Deutungsweisen sind vorstellbar. Die Nachstellungen eines gespenstigen Affen sowie die Heimsuchungen eines früheren Schifffahrt-Offiziers durch einen Rächer aus seiner verdrängten Vergangenheit, führen zu dramatischen Folgen für die jeweils Betroffenen.

Nach diesem Auftakt erwarten den Leser dann drei weitere Beispiele Le Fanu’scher Erzählkunst, die uns förmlich an die Seiten fesseln.

Zunächst geht es um einen Richter, der bekannt für seine drakonischen Urteile ist - und sich unerwartet selbst auf der Anklagebank wiederfindet. Die vierte Geschichte - beinahe ein kurz ausgefallener Roman - führt den britischen Erzähler nach Paris - in eine Stadt, in der er sich verliebt, eine Stadt, in der er ein berüchtigtes Hotelzimmer bezieht, eine Stadt, in der ihm ein Schicksal droht, wie schon zwei einst vermögenden Männern vor ihm; ein Text, der, obzwar er ohne übernatürliche Elemente auskommt, gängige Versatzstücke des Schauer-Romans aufgreift, variiert und dann zu einem in sich logischen Finale führt.

Den Abschluss bildet dann der Roman „Carmilla“, einer der ersten Texte, in denen Vampire eine bedeutende Rolle einnehmen, zudem der einzige im Buch enthaltene Beitrag, der eine eindeutig und rein phantastische Handlung schildert. Zudem wird, erstaunlich für die Zeit der Entstehung, eine Liebesbeziehung zwischen zwei Frauen - Vampirin und Opfer - angedeutet.

So wendet sich dieses Buch an die Freunde der klassischen Geistergeschichte. Diese werden hier bestens von einem Großmeister der unheimlichen Literatur verwöhnt. Gerade die oftmals offen gelassene Wertung, ob es sich bei den Vorkommnissen wirklich um übersinnliche Erscheinungen oder Wahnvorstellungen gehandelt hat, macht den Reiz der Texte aus. Hier kann, hier muss sich jeder Rezipient selbst Gedanken machen, werten und sich letztlich positionieren. Unterhalten wird er dabei auf jeden Fall atmosphärisch dicht und spannend bis zum jeweiligen Schluss.