Kai Meyer: Die Bücher, der Junge und die Nacht (Buch)

Kai Meyer
Die Bücher, der Junge und die Nacht
Knaur, 2022, Hardcover, 496 Seiten, 22,00 EUR

Rezension von Gunther Barnewald

Kai Meyer erzählt in seinem neuesten Roman eine intelligente und verschachtelte Geschichte, die vor allem in den Jahren 1933, 1943/44 und 1971 spielt. Ausgangspunkt ist das einst berühmte graphische Viertel in Leipzig, in dem viele Verlage ansässig waren, Buchbinder ihre Geschäfte hatten, Lagerhallen für Bücher waren und auch Antiquariate existierten. Hier verdienten früher viele Menschen ihr Geld mit dem und rund ums Buch, bis, bei der Bombardierung 1943, dieses Viertel fast völlig vernichtet wurde. Erzählt wird die Geschichte hauptsächlich aus der Sicht zweier Personen.

 

Der geniale Buchbinder und Antiquariatsbesitzer Jakob Steinfeld betreibt im graphischen Viertel ein kleines, antiquarisches Geschäft mit Buchbinderei, bis er 1933 immer mehr mit der marodierenden SA konfrontiert wird. Zudem sitzt ihm der mächtige Verleger Pallandt im Nacken, der auf Jakobs Gelände eine neue Ausfahrt für seine große Verlagsdruckerei bauen lassen will. Als sich dann auch noch Pallandts Tochter mit einem geheimnisvollen Manuskript an ihn wendet und sich Jakob in die junge Frau zu verlieben scheint, findet sich der Buchbinder bald im Kreuzfeuer der Feindseligkeiten wieder.

Dann ist da noch (als weiterer, wichtigerer Protagonist) der junge Robert Steinfeld, der nach seiner Geburt Ende 1933 zehn Jahre lang gefangengehalten wird in einem Keller voller Bücher im graphischen Viertel, bis ihm die Flucht nach der Bombardierung 1943 aus der Gefangenschaft gelingt, am selben Tag wohl, als sein Vater, der nichts von der Existenz des Jungen weiß, im Bombenhagel stirbt.

Ein seltsamer, sehr unheimlicher Mann rettet Robert und nimmt ihn mit auf die Reise quer durch Kriegsdeutschland, um an verborgene Bücherschätze in zerstörten Häusern zu gelangen.

Dieser Mann sucht ein einmaliges Buch, welches vielleicht einen Teufel in die Gegenwart dieser Welt gebannt haben könnte, welches aber auch dessen Befreiung sein könnte. Er bekomme es, so erzählt er Robert, wenn er ein anderes Buch, das ebenfalls einzigartige Manuskript von Juli Pallandt, auftreibe, welches Jakob dereinst (1933) gebunden hatte.

Im Jahre 1971 ist der greise Patriarch Pallandt dann verstorben und sein Sohn beauftragt eine erfahrene junge Frau mit der Einschätzung der wertvollen Büchersammlung des Vaters und deren Verkauf. Mit ihr befreundet ist wiederum Robert Steinfeld, der so nochmals in die alte Geschichte hineingezogen wird und für den sich erst hier alle Puzzleteile endgültig zu einem verstehbaren Bild zusammensetzen (und damit auch für den Leser)…


„Die Bücher, der Junge und die Nacht“ ist ein wunderbar elegisches, elegantes und melancholisches Buch, welches sich viel Zeit nimmt, die verwickelte Handlung langsam und sorgfältig aufzudröseln. Dabei werden die alten Zeiten wieder lebendig vor den Augen des Lesers, denn der Autor hat hier gut recherchiert und schafft es so (im Gegenteil zu manchen Kollegen), die vergangenen Zeiten und ihre Atmosphäre glaubhaft zu beschreiben.

Zwar werden hier nicht alle Klischees vermieden (mächtiger, kaltherziger Verleger, esoterische Ehefrau und Verlegerin etc.), aber Meyer gelingt das Kunststück, den Bogen zu heutigen Esoterikern und Verschwörungstheoretikern zu schlagen, indem er deren naturwissenschaftsfreien Aberglauben bloßlegt (vor allem im Abgang des Gurus der Gläubigen und dessen rückhaltloser Zugabe von Betrug und Täuschung an dessen Lebensende). Dass auch hohe Nazi-Größen (Heinrich Himmler) auf diesen Dummfug abfuhren ist selbstredend und keinerlei Überraschung.

So erwartet den Leser ein unterhaltsames, bunt-gruseliges Triptychon (wegen der drei Zeiten, aus denen erzählt wird), das immer wieder überraschende Wendungen zeigt, auch wenn nervenzerfetzende Spannung nicht unbedingt die Kernkompetenz des Buchs darstellt. Trotzdem ist die Geschichte packend genug, um als Leser unbedingt das Ende erfahren zu wollen, die Lösung der ganzen Rätsel (Warum wurde Robert gefangengehalten und versteckt? Warum wusste sein Vater nichts von seiner Existenz? Was wurde aus Juli Pallandt, der Mutter Roberts? Wo ist Julis Manuskript? Wer hat das andere mysteriöse Buch? etc.).

Ebenfalls nicht ganz überzeugend ist der lange und etwas beliebig wirkende Titel, den man sich nur sehr schwer merken kann (unter Marketinggesichtspunkten wahrlich kein Highlight, auch wenn John D. MacDonald hier dereinst mit seinem großen Klassiker „The Girl, the Gold Watch & Everything“ bewiesen hat, dass es auch anders geht in puncto Einprägsamkeit).

Perfekt arrangiert hat der Autor dagegen die einzelnen Puzzleteile, die am Ende superb ineinander fallen. Einzig die Antwort, ob der unheimliche Lebensretter Roberts seine schlussendliche Erlösung erhält, wird vom Autor geschickt umschifft.

Das Buch hat genau den wunderbar leichten aber realistischen Touch, um die Geschichte glaubhaft zu halten und ihr trotzdem eine grandios phantastische und unheimliche Atmosphäre zu verschaffen.

Der vorliegende Roman dürfte, neben Meyers wunderbarer „Merle“-Trilogie, sein bisher bestes Werk sein. Zwar nicht ganz so phantasievoll wie seine Jugendbücher, aber herrlich elegisch, melancholisch und ergreifend.