Christoph Marzi: Grimm (Buch)

Christoph Marzi
Grimm
Titelillustration von T. Mutzenbach
Heyne, 2010, Hardcover, 556 Seiten, 17,99 EUR, ISBN 978-3-453-26661-2

Von Carsten Kuhr

Vesper Gold hat es nicht einfach. Als Kind berühmter Eltern – ihr Vater ist ein gefeierter Regisseur, ihre Mutter als Konzertpianistin in allen Konzertsälen der Welt zu Hause – mangelt es der Siebzehnjährigen zwar nicht an Geld, doch menschliche Wärme, Geborgenheit und Zuneigung hat sie schon lange nicht mehr erlebt.

Zwei Tage, die ihre Welt verändern, beginnen damit, dass sie einmal mehr zur Rektorin ihrer Privatschule in Hamburg gerufen wird. Die Fälschungen ihrer ärztlichen Atteste sind aufgeflogen, nun droht ihr erneut der unrühmliche Abgang von einer der Eliteschmieden der Zöglinge aus reichem und berühmtem Haus. Nur der Ruf ihrer Mutter verhindert zunächst noch den Rauswurf. Genervt von allen zieht sie sich in ihre billige Mansardenwohnung zurück. Hier ereilt sie die Nachricht, dass ihr Vater verstorben ist – ein Gewaltverbrechen wird nicht ausgeschlossen. Zunächst ziellose läuft sie durch die Hansestadt, glaubt immer wieder, einen Mann in einem altertümlichen Mantel zu sehen, der sie verfolgt. Vor dem Gemälde „Das Eismeer“ von Caspar David Friedrich, das für ihren Vater eine besondere Bedeutung gehabt hatte, trifft die Siebzehnjährige auf einen, der wie dieser eine besondere Beziehung zu dem Bild zu haben scheint. Doch weder ihre Laune noch die Zeit ist reif für einen Flirt, die beiden gehen ihrer Wege.

In der Villa ihrer Mutter stößt Vesper dann erstmals auf Abgesandte der Mächte, die in der Folgezeit nicht nur ihr Leben in Frage stellen werden, sondern ganz Europa in Aufruhr versetzen. Die Kinder sind es, über die die phantastischen Wesen die Welt, aus der sie einst verbannt wurden, nun zu packen suchen. Während Vesper im mütterlichen Anwesen das erste Mal auf einen Wolfsmenschen trifft, die Leiche ihrer Mutter im Flügel findet und panisch flüchtet, schlafen in ganz Europa Kinder ein und lassen sich nicht mehr aufwecken. Stattdessen sucht ein Traum die besorgten Eltern heim. Ein Traum, der von einem Unrecht berichtet, das vor Jahrhunderten die Welt veränderte, ein Unrecht, das von der Bohemia, einer Geheimloge, der neben den Gebrüdern Grimm auch Anderson, Goethe und Schiller angehörten, begangen wurde, und das nun gesühnt werden soll.

Nun ist es an den letzten der Bohemia, Versper Gold, ihre Museumsbekanntschaft Leander und dem Mann im Mantel, die Bedrohung abzuwenden – oder vielleicht doch ein altes Unrecht wieder gutzumachen, auch wenn dies mit herben Opfern für sie verbunden wäre…

Märchen waren vorgestern, „Reckless“ gestern, jetzt kommt Christoph Marzi. Und ganz ähnlich, wie die von den Gebrüdern Grimm gesammelten und aufgeschriebenen Überlieferungen auch, ist das Gebotene nichts für ängstliche Seelen.

Ganz anders, als die sonst so angesagten Edelvampire und Konsorten, umweht die Märchenfiguren der Marzi’schen Geschichte der Nimbus der wirklichen Bedrohung. Das sind keine weichgespülten Gigolo-Verschnitte, das erschreckt, verstört und passt doch wunderbar ins Bild. In seinem ganz besonderen, sehr schön flüssigem, unauffälligem aber doch gediegenem Stil verfasst, präsentiert uns der Autor ein weiteres Mal eine ganz eigene, ergreifende Geschichte. Da geht es um Personen, die uns im Verlauf der Handlung ans Herz wachsen, nicht nur weil sie mutig sind, sondern auch, weil sie und ihr Verfasser den Mut haben, sich zu fürchten, wegzulaufen, verzweifelt zu sein. Das rührt an, einfach weil es glaubwürdig ist, das sind Charaktere, die nicht als platte Abziehbilder daherkommen. Dazu kommt, dass Christoph Marzi immer auch seine ganz eigene Phantasie bemüht. Das geht abseits ausgetretener Pfade, mehr im Geiste eines Michael Ende oder C. S. Lewis als eines Tolkien auf die Reise, erinnert in seinem Facettenreichtum an die Fabulierkunst eines Kai Meyer, steht letztlich aber doch auf ganz eigenen Beinen. Lebendig wirkt der Text, der jung wie alt anspricht, ergreifend, märchenhaft-verzaubernd, voller Leben, Liebe und Trauer aber auch voller Hoffnung.

Großes Kopfkino mit Anspruch und ein Aspirant auf die Phantastik-Preise des nächsten Jahres!