Michael Schmidt (Hrsg.): Zwielicht 4 (Buch)
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- Kategorie: Rezensionen
- Veröffentlicht: Donnerstag, 26. Mai 2022 11:15

Michael Schmidt (Hrsg.)
Zwielicht 4
Titelbild: Björn Ian Craig
Saphir im Stahl, 2014, Taschenbuch, 344 Seiten, 12,95 EUR
Rezension von Elmar Huber
„Unserer Freundin kniete neben der Blutlache nieder. Sie benetzte ihre Finger mit der roten Flüssigkeit und malte damit das Symbol der ineinander verschlungenen Kreise auf ihre Stirn. Aus welchem Grund sie dies tat, konnte ebenfalls niemand erklären, außer dass es sich unter diesen Umständen richtig anfühlte, dass es sogar das einzig vernünftige war, das jemand tun konnte, wenn mit der Geste und dem seltsamen Laut eine Kröte aus einem Tümpel gerufen worden war.“ (Daniel Schenkel: „Herr Winzig“)
Vincent Voss: „Rotkäppchen und Dr. Wolf“
Als Rotkäppchen tot im Wald aufgefunden wird, ist für die Dorfbewohner sofort klar, dass Dr. Wolf der Täter sein muss. So macht sich eine Gruppe Männer bei Anbruch der Dämmerung auf den Weg zum Haus der Großmutter. Doch ohne es zu wissen, stehen die Dorfbewohner bereits unter Dr. Wolfs Einfluss.
Iven Einszehn: „Der Arztbesuch“
Obwohl der Patient behauptet hat, seine Finger wären gebrochen, zeigt das Röntgenbild eine völlig gesunde Hand. Den Patienten so unversehrt zum Doktor vorzulassen, verbietet die Pflichtauffassung der Arzthelferin. Damit der Arztbesuch nicht gänzlich umsonst war, könnte sie etwas nachhelfen.
Jens Schumacher: „Dr. Leinensack“
Zuerst hält er das unfrankierte Päckchen Tabletten samt dem Anschreiben für einen Scherz. Eine Pille, die auch Männern den normalerweise Frauen vorbehaltenen ‚Grünen Daumen‘ und ein ganz neues Verständnis für Pflanzen bescheren soll. Und seit der Einnahme, besonders seit der eigenmächtigen Erhöhung der Dosis, entwickelt er zu seinen Zimmerpflanzen tatsächlich eine ganz neue Beziehung.
Josef Helmreich: „Tattoo“
Auf den Stuhl des Tätowierers ist John entspannter, als er gedacht hat. Ist er vielleicht sogar eingeschlafen und träumt womöglich? Denn plötzlich hat seine untreue Ex-Freundin den Platz des Tätowierers eingenommen.
Dominik Grittner: „Master Carvats Geheimnis, Leichen verschwinden zu lassen“
Eine unschöne Nebenerscheinung von Le Blancs Geschäften sind die Leichen, die es hier und da zu entsorgen gibt. Mit Master Carvat hat er jedoch einen Kontaktmann, der es versteht, unliebsame Überreste ohne jede Spur verschwinden zu lassen. So wie die jüngste Lieferung, die Omar und Neuling Karl an Carvat übergeben sollen. Doch Le Blanc will sich zukünftig Carvats teure Dienste sparen, und so lautet Karls Auftrag herauszufinden, wie genau der Master die sterblichen Überreste beseitigt.
Carsten Zehn: „Vom wahren Namen eines Baumes“
Kein Argument scheint den Friedhofsverwaltungsbeamten davon abbringen zu können, den alten Friedhof zu schließen, den Gabhan Canmores schon seit Ewigkeiten als Gärtner betreut. Selbst der freiwillige Verzicht auf sein ohnehin mickriges Gehalt könne an der Situation nichts ändern. Erst die Demonstration der Macht des alten Baumes, der das Zentrum des Totenackers dominiert, bringt die Wendung.
Regina Schleheck: „Cristal von der Post“
In naher Zukunft bietet die Post den Kunden die Möglichkeit, den Hinterbliebenen sofort nach dem Ableben eine Nachricht zukommen zu lassen. Zum Beispiel die Erkenntnis, von seinem Ehemann und dessen Liebhaberin aus dem Weg geräumt worden zu sein.
Verena Gehle: „Carlotta“
Ein Wanderurlaub in der Einsamkeit des Nunmatals: nur Yuri und sein Hund Pim. Das perfekte Vorhaben, um über Carlotta hinwegzukommen, die ihm gerade den Laufpass gegeben hat. Doch während seiner Wanderung glaubt Yuri, seinen Ohren nicht zu trauen, als er in der Nähe plötzlich Carlottas Stimme vernimmt. Und kurz darauf seine eigene. Doch das ist unmöglich. Dafür hat er doch selbst gesorgt.
Andreas Flögel: „Der Hauch einer Berührung“
Bevor er den kalten Arm ihrer Leiche neben sich ertastet, sieht er Linas Geist auf seiner Bettkante sitzen, und in dieser Form ist sie immer bei ihm. So führen sie - mit einigen Einschränkungen - auch nach Linas Tod noch immer eine einigermaßen normale Beziehung. Das Einzige, was er vermisst, sind die alltäglichen zärtlichen Berührungen zwischen ihnen. Da zeigt ihnen der Zufall einen Weg, wie es ihnen gelingen kann, die Grenzen aufzuheben.
Erik Hauser: „Mein Onkel Stanislaus“
Onkel Stanislaus ist ein unangenehmer und undankbarer Zeitgenosse, der ein hartes Familienregiment führt und seiner Umgebung und auch seiner Ehefrau Rose das Leben zur Hölle macht. Eines Tages bildet sich eine Nekrose, die auf seinen unmäßigen Tabakgenuss zurückzuführen ist. Dies ist nur der Auftakt zu mehreren Amputationen, die ihn schließlich komplett ans Bett fesseln. So wird das Leben für Tante Rose noch anstrengender und demütigender, was sie alles ohne Wehklagen erträgt. Selbst nach Stanislaus Beerdigung trauert Rose ihrem Mann noch nach.
Max Pechmann: „Ein seltsamer, kühler Ort“
Um sich von seiner Ideenarmut abzulenken und der hochsommerlichen Hitze seines Apartments zu entkommen, besucht ein Drehbuch-Autor ein unscheinbares Kino in der Nachbarschaft, wo sich nach dem Verlöschen des Lichts seltsame Dinge tun.
Daniel Schenkel: „Herr Winzig“
Die Kinder entdecken den Puppenmann Herr Winzig in einer verlassenen Villa, die sie als Spielplatz gebrauchen. Zuerst bringt er ihnen einige Rituale und Zaubersprüche bei, dann beginnen die Träume. Doch das alles war erst der Anfang. Als einen von Ihnen stirbt, beginnt der wahre Schrecken.
Michael Böhnhardt: „Die Flammen von Troja“
Durch seinen Vertrag mit Faust ist Mephistopheles daran gebunden, dessen Wünsche zu erfüllen, bis dieser stirbt und seine Seele dann endlich dem Herrn der Hölle gehört. Faust als Diener des Kaisers nutzt dieses Arrangement, sich von seinem Vertragspartner die Wünsche seines Herrn erfüllen zu lassen, bis hin zur Wiedererweckung der Toten. Ein Problem gibt es jedoch, als es den Kaiser gelüstet, Homers Helden von Troja zu sehen, gehören die doch ins Reich der Legenden und haben nie wirklich existiert. Doch während es recht einfach ist, irgendwelche Männer aus dem Totenreich als antike Krieger zu verkleiden, stellt sich die Suche nach Helena - einer Frau von solcher Schönheit, dass deswegen ein Krieg ausbrach - als schwieriger und auch sehr viel gefährlicher dar.
Harald A. Weissen: „Am Ende eines Sommers“
Als er seine ehemalige Mitschülerin Kim zufällig an der Supermarktkasse neben sich sieht, kehren seine Erinnerungen an die Schulzeit zurück. Die Zeit, in der er Kim, bis über beide Ohren verknallt, gefolgt ist. An ihre geheimen Orte in der Hoffnung, sie zu treffen, und doch unwissend, was dann zu tun sei. An die seltsamen Ereignisse, deren Zeuge er damit wurde. Und dann ergibt sich plötzlich doch die Gelegenheit, Kim wieder zu begegnen.
„Ein pfeifender Windstrom wehte von der Treppe raschelnde Blätter und Fäulnisgestank hinter mir her, unter meinen Schuhen knirschte Glas, einige blutbesudelte Spritzen, leere Flaschen und etwas, das wie ein verwester Tierkadaver aussah, lagen am Rand, und von irgendwo vernahm ich ein leises, seltsames Geräusch, das ich nicht einordnen konnte. Doch mit jedem Meter, den ich hinter mich brachte und mich der Mitte des Tunnels näherte, wurde es lauter, und ich begriff bestürzt, was es in Wirklichkeit war: Eine Person, die eine Kindermelodie sang und sich gleichzeitig würgend übergab.“ (Harald A. Weissen: „Am Ende eines Sommers“)
Mit seiner Magazinreihe „Zwielicht“ kann Michael Schmidt als Vorreiter einer kleinen Welle deutscher Horror-Anthologie-Reihen gesehen werden, was es vorher jahrelang nicht gab. Die Kollegen heißen „Horror Legionen“ (bisher 3 Ausgaben), „Mängelexemplare“ (bisher 4 Ausgaben und ein Roman) und „Diabolus“ (2 Ausgaben). Michael Schmidt selbst hat noch die „Zwielicht Classic“-Reihe nachgeschossen, die er in Eigenregie als eBook und als Print über Amazon herausbringt.
Zwar ist „Zwielicht“ als Magazin mit Sekundärbeiträgen konzipiert, doch liegt der Fokus auf den Kurzgeschichten. Auch das Taschenbuchformat vermittelt eher das look & feel einer Anthologie als das eines klassischen Magazins.
Wie man den Herausgeber kennt, erwarten den Leser im Geschichtenteil moderne Phantastik-Storys, die einen willkommenen Bogen um überstrapazierte Mode-Horrorthemen und -gestalten machen. Wie in jeder Anthologie wird jeder Leser seine ganz persönlichen Favoriten finden. Öde Vorhersehbarkeit kann man den Beiträgen in „Zwielicht“ 4 auf jeden Fall nicht vorwerfen. Schon die Autoren-Mischung, von denen jeder seine eigene Stimme einbringt, spricht wieder für sich.
Zwar finden sich keine der ganz großen Namen, die einem breiten Publikum bekannt sind, in der Liste, doch ist das für Michael Schmidt auch zweitrangig. Jens Schumacher, Vincent Voss und Dominik Grittner veröffentlichen immer wieder in Publikumsverlagen (Lübbe, Loewe, Egmont). Erik Hauser, Daniel Schenkel und Harald A. Weissen zählen zu den geschätzten ‚Szene‘-Lieblingen, und auch die Übrigen müssen sich keinesfalls verstecken. Alle punkten mit durchweg originellen Beiträgen, die ihre Wurzeln in klassischen pHantastik-Themen haben, diese aber in ein modernes Gewand kleiden.
Den Sekundärteil eröffnet Achim Hildebrand, der kurz das Leben von Algernon Blackwood beleuchtet, den Lovecraft als „absoluten und unbestrittenen Meister der unheimlichen Stimmung“ bezeichnete und der in seinen Geschichten weit subtiler zuwerke ging als der Erfinder des Cthulhu-Mythos. Eine Kurzvorstellung ausgewählter Blackwood-Geschichten ergänzt die Biografie.
Mirko Stauch und Daniel Neugebauer berichten mit beeindruckender Detailfülle über „H. P. Lovecraft und die Weird Tales“. War es doch diese Zeitschrift, die Lovecraft nicht nur lückenlos las, sondern in der auch die meisten seiner Kurzgeschichten veröffentlicht wurden. Nicht ohne den einen und anderen Rückschlag und so manchen Kampf mit dem jeweiligen Verleger, für die es immer noch galt, ein Magazin zu verkaufen und nicht die Kunst zu fördern.
Eric Hantsch nimmt sich des Norddeutschen Theodor Storm an, der ebenfalls einige phantastische Geschichten in seinem Oeuvre hat. Eine Kurzbiografie Storms, gefolgt von sachkundigen Vorstellungen vier gespenstischer Werke des „Poetischen Spoekenkiekers“, die da wären: „Bulemanns Haus“, „Renate“, „Eine Frage des Gefühls“ und wohl Storms bekannteste Gespenstererzählung „Der Schimmelreiter“.
Meine Wenigkeit trägt eine Vorstellung der bis dahin fünf Romane bei, die in den Jahren 2008 bis 2012 den Vincent Preis gewonnen haben. Weiterhin sind die Ergebnisse des Vincent Preises 2011 und 2012 abgedruckt.
Seit „Zwielicht“ im Verlag Saphir im Stahl erscheint und die Cover von dem Schweizer Künstler Björn Ian Craig gestaltet werden, hat die Reihe auch optisch ihr eigenes, sehr ansprechendes Profil gefunden. Neben den mehr als gelungenen Titelbildern beeindruckt jedes Mal, wie kunstvoll Björn Ian Craig die jeweilige Nummer der Ausgabe in den Magazinnamen einflicht.
Dies ist eine absolut empfehlenswerte Sammlung deutscher Horror-Kurzgeschichten, die sich nicht an aktuellen Strömungen (Zombies, Torture-Porn etc.) anbiedert, sondern klassische Horror-Themen in moderne Geschichten verpackt liefert.
Update: „Zwielicht“ 4 ist inzwischen beim Verlag vergriffen, aber als eBook und Taschenbuch über Amazon zu beziehen.