Gerald Hagemann: Tea Time Stories (Buch)

Gerald Hagemann
Tea Time Stories
Titelbild: Jörg Kleudgen
Murder Press, 2013, Taschenbuch, 90 Seiten, 15,00 EUR

Rezension von Elmar Huber

„Der erste Mensch, dem ich im Sam's begegnete [...], war nicht einmal ein Mensch. Vielmehr war er eine Art White-Terrier, der auf zwei Beinen lief und modische Kleider trug. Der ganze Kerl maß - aufrechtstehend - vom Scheitel bis zur Sohle mindestens fünf Fuß, und ich vermutete damals, dass er eventuell gezüchtet worden war, um im Zirkus aufzutreten." („Die Begegnung“)

Ein bekannter Stückeschreiber sucht seine beiden Freunde Frederick Greenland und Sir Hironimus Henry in deren Wohnung auf. In zwei Wochen soll die Premiere seines neuen Schauspiels stattfinden, für das er bislang keine einzige Zeile aufs Papier gebracht hat. Die Freunde raten ihm zu reisen, um neue Eindrücke zu sammeln, doch bis dahin - in der gegebenen Kürze der Zeit - gibt Frederick Greenland vier Geschichten zum Besten, die dem Autor hoffentlich zur Inspiration gereichen.

„Die Begegnung“:
Frederick Greenland, mehr oder weniger von seiner Familie verstoßen, findet im Jahre 1862 den Weg nach London, wo er das Handwerk eines Goldschmieds erlernt und sich so ein neues Leben aufbaut. Am Silvesterabend 1870, in seinem Stamm-Pub Sam's, soll sein Leben plötzlich eine entscheidende Wendung nehmen, denn Sir Hironimus Henry, ein aufrechtgehender und der menschlichen Sprache mächtiger White-Terrier, stolpert sichtlich verstört in den Schankraum.
Nachdem sich der Neuankömmling beruhigt hat - und mit Hilfe einiger von Sams Martini-Orange -, erfahren Frederick, Sam und dessen Ehefrau Lilly, dass sich der Hund auf der Flucht vor einem gewissen Dr. Stuckles und seinem Häscher Bragman befindet. Da Sir Henrys Heimstatt niedergebrannt ist, zieht er bis auf weiteres bei Greenland ein.

„Das liebe Geld“:
Eines Abends im Jahre 1901 gerät Sir Henry mit seinem Geschäftspartner, dem reichen Gutsbesitzer Forntenrow, in eine Debatte über das Für und Wider verschiedener Zahlungsmittel. Der Disput gipfelt schließlich in einer Wette, bei der Sir Henry mit einer einzelnen kupfernen Penny-Münze gegen Forntenrows Scheckheft antritt.

„Der Nebel“:
Der nebelverhangene Heimweg aus Sam's Pub veranlasst Sir Henry und Frederick Greenland zu einem philosophischen Diskurs über das Empfinden des Nebels.

„Die Marmortreppe“:
Während einer Silvesterparty finden sich ein gutes Dutzend Gäste in der Wohnung von Frederick Greenland und Sir Henry ein. Die gereichten Getränke lockern die Zungen der Gäste, und so erfährt Frederick von seinem Nachbarn Mr. Hillerman, dass die attraktive Mrs. Brockenhurst nicht nur ein Faible für jüngere Männer hat, sondern dieses auch mit dem ebenfalls anwesenden Abenteurer Sir Alexander Fendon auslebt, wofür es in der Vergangenheit schon Zeugen gab.
Plötzlich ist der gehörnte Mr. Brockenhurst verschwunden, ohne sich verabschiedet zu haben. Jeder vermutet eine Reaktion auf eine weitere Demütigung durch seine Frau, jedoch wird er kurz darauf erstochen am Fuß der Marmortreppe aufgefunden. Der Mord deutet, ob der geöffneten Haustür, zunächst auf eine Tat von außen hin. Nach Sichtung der Fakten ist Sir Henry jedoch überzeugt, dass der Täter sich noch im Inneren des Hauses aufhält.

„„Ist das nicht komisch, Frederick?" Er sah an mir vorbei auf den Toten. „Da sind sie einem die liebsten Gäste, und man begegnet ihnen mit aller Höflichkeit und bewirtet sie; und kaum haben sie ihr Leben ausgehaucht, will man sie so schnell als eben möglich aus dem Haus haben."“ („Die Marmortreppe“)


Band 3 von Uwe Voehls Murder Press vereint vier Frühwerke von Gerald Hagemann, der sich - neben seinem Broterwerb als Goldschmied für Zauber-Requisiten - der britischen Kriminalgeschichte sowie dem Schreiben eigener Kriminal-Literatur widmet. So hat er neben den Sekundärwerken „London von Scotland Yard bis Jack the Ripper“ und „Tatort Großbritannien“ zwei Romane um die Ermittlerin Dorotha Marley verfasst („Dem Tod geweiht“, 2006 und „Mord bei Pooh Corner“, 2008), die bei Goldmann erschienen sind.

Die vorliegenden Geschichten um den sprechenden und klugen Gentleman-Terrier Sir Hironimus Henry und seinen Freund Fredrick Greenland, seines Zeichens ein angesehener Goldschmied, verbinden dabei den nostalgischen Krimi-Charme von Sherlock Holmes und Dr. Watson mit der phantastischen Idee vernunftbegabter und ‚vermenschlichter‘ Tiere aus H. G. Wells’ „Die Insel des Dr. Moreau“. Ob Hironimus Henry dabei von dem Tierarzt Dr. Stuckles erst zu dem gemacht wurde, was er ist oder ob der Doktor ihn wegen seiner Besonderheit jagen lässt (siehe „Die Begegnung“), wird hier nicht aufgeklärt. Viel mehr liegt dem Autor die heimelige Kamin-Atmosphäre am Herzen, die er bereits in der kleinen Rahmenhandlung heraufbeschwört.

Die Geschichten, die Greenland seinem Gast erzählt, reichen dabei von der obligatorischen ersten Begegnung mit seinem Freud Hironimus über zwei Episoden, die man als Stilübungen betrachten kann, bis hin zu einer vollständig ausgearbeiteten Krimi-Episode, die auch Sherlock Holmes gut stehen würde.

Damit hat die Murder Press eine weitere Publikation in den Regalen, die bestimmt nicht für jedermann geeignet ist, für den offengeistigen Verehrer des Genres allerdings britisch-distinguierte Unterhaltung bietet, selbst im Angesicht sprechender Hunde in edlem Zwirn. Zumal sich Sir Henry als feinsinnig, klug und stets Herr der Lage erweist.

Abgerundet wird der Band von einem Nachwort von Phantastik-Spezialist und Liebhaber britischer Unterhaltung Uwe Somerlad.

Wie auch die Vorgängerbände wurden alle Exemplare der „Tea Time Stories“ in Handarbeit von Jörg Kleudgen gefertigt, der auch für Umschlagmotiv und -gestaltung verantwortlich zeichnet. Als kleinen Freundschaftsdienst hat Autor und Grafiker Malte S. Sembten noch ein Frontispiz erstellt, das vorn ins Buch eingeklebt ist.

„Tea Time Stories“ bietet kluge und entspannte Unterhaltung zwischen Sir Arthur Conan Doyles Sherlock Holmes und H. G. Wells Dr. Moreau, die tatsächlich perfekt für einen gemütlichen Abend am Kamin geeignet ist.