Scott Westerfeld: Die geheime Mission – Leviathan 1 (Buch)

Scott Westerfeld
Die geheime Mission – Leviathan 1
(Leviathan)
Aus dem amerikanischen Englisch übersetzt von Andreas Helweg
Titelbild und Innenillustrationen von Keith Thompson
cbj, 2010, Hardcover, 474 Seiten, 17,99 EUR, ISBN 978-3-570-13969-1

Von Carsten Kuhr

Die Ereignisse, die zum Ersten Weltkrieg geführt haben, sind uns aus dem Geschichtsunterricht bekannt. Das Attentat in Sarajevo, das Österreich-Ungarn und das Deutsche Reich in den Konflikt führte, das Bündnis Russlands mit Serbien, der Beistandspakt Frankreichs und dann der Kriegseintritt Großbritanniens – Europa brannte, die Welt folgte.

Bei Scott Westerfeld ist Vieles ähnlich, aber es gibt auch markante Unterschiede. Während Österreich-Ungarn und das Deutsche Reich als Mechanisten ganz auf die Technik setzen, gingen die gegnerischen Reiche einen anderen Weg. Nachdem Darwin die künstliche Veränderung des DNA-Stranges erfand, wuchsen in den Laboren der Biologen aberwitzige Lebewesen und Kreuzungen heran, die in diesen Ländern den Platz der technischen Wunderwerke aus Daimler- und Krupp’scher Werkhalle übernehmen. An Bord gigantischer fliegender Wale wird der Luftkampf geführt, Kreuzungen von Tigern und Elefanten ziehen Lasten, das Wunderwerk des Lebens hat die mechanischen Werkzeuge längst ein- und überholt.

Dies sind die Abenteuer zweier junger Menschen, wie sie gegensätzlicher nicht sein könnten. Die eine, Deryn Sharp, ein Mädchen aus England, träumt, seitdem sie mit ihrem mittlerweile verstorbenen Vater an Bord eines Fesselballons das erste Mal das Reich der Lüfte erkundet hat, davon, dem Boden zu entfliehen und in den grenzenlosen Weiten des Himmels ihr Glück zu finden. Dass sie als Mädchen in der königlichen Marine King Georges, dem Air Service, nicht erwünscht ist, zwingt sie dazu, sich als Junge zu verkleiden,und sich als fähiger Kadett auf dem bedeutendsten lebenden Luftschiff seiner Majestät, dem „Leviathan“, einzuschleichen. Ihre Mission: die Biologin Dr. Nora Balow, natürlich stilecht mit Bowler behutet, und ihre wertvolle, lebendige Fracht nach Konstantinopel, ins eigentlich verfeindete Osmanische Reich zu transportieren. Auf ihrem Weg wird der „Leviathan“ von deutschen Fliegern abgeschossen und stürzt schwer verletzt auf einen der Schweizer Alpengletscher ab.

Auftritt für den anderen Protagonisten. Prinz Aleksandar von Hohenberg muss, nachdem seine Eltern, die Herrscher über das Reich der Habsburger in Sarajevo ermordet wurden, fliehen. An Bord eines Läufers, eines gigantischen mechanischen Streiters, eilt er in Richtung der Schweizer Grenze. Sein Onkel, der deutsche Kaiser, der das Attentat auf den Erzherzog und dessen Gemahlin gerüchteweise erst in die Wege leitete, verfolgt ihn unnachgiebig. Der Tod des Habsburgers eröffnet diesem und seinem Generalstab die Möglichkeit, Russland den Krieg zu erklären. Dass der von einer Bürgerlichen geborene Aleksandar im Geheimen vom Papst als rechtmäßiger Erbe des Deutschen Reiches legitimiert wurde, könnte die Pläne des im Sterben liegenden Kaisers und der Kriegstreiber stören. So setzen die Rädelsführer alles daran, den Thronerben zu vernichten. Eine spannende Jagd später gelingt Alek die Flucht über die Grenze in die neutrale Schweiz.

Hier treffen nicht nur die beiden Protagonisten, sondern auch Welten aufeinander. Auf der einen Seite die Mechanischen mit ihren hochgezüchteten technischen Wunderwerken, dort die Darwinisten mit ihren biologischen Hybriden...

Dieses Jahr räumten Steampunk-Titel bei der Verleihung der Locus Awards groß ab. Neben Cherie Priests „Boneshaker“ (bei Heyne in Vorbereitung) der den Preis für den Besten Roman errang, wurde vorliegender Roman als bestes Jugendbuch mit den Publikumspreis bedacht. Und dies hat das Buch auch wirklich verdient. Kaum ein anderer, einschlägiger Titel hat die Synthese zwischen der Vergangenheit und der Zukunft, zwischen Geschichte und Fiction derart publikumswirksam und angenehm zu lesen auf den Punkt gebracht, wie der Auftaktband der „Leviathan“-Trilogie.

Boteneidechsen, Wasserstoffschnüffler, Medusen auf der einen Seite, Läufer und gigantische Fregatten auf acht Beinen auf der anderen Seite – der Autor erschlägt seinen Leser geradezu mit markanten, ja gigantischen Einfällen der besonderen Art. Dazu hat sich Westerfeld eines ganz besonderen historischen Ereignisses angenommen, das bislang von den meisten phantastischen Autoren schlicht übersehen und missachtet wurde. Der Beginn des Ersten Weltkrieges, einer Auseinandersetzung, die erst durch den kompletten Ausfall aller diplomatischer Bemühungen zustande kam, wird in einem wahrhaft phantastischen Setting aufgegriffen und dient als faszinierende Kulisse für die packende Handlung. Geschickt verwebt der Autor dabei Realität und Fakten mit Erdachtem, schildert das Ganze aus der Sicht der jugendlichen und sehr sympathisch gezeichneten Protagonisten, die dem Leser als ideale Identifikationsfiguren dienen. Zum einen ermöglich es ihm, die mutige Deryn Fragen wie Emanzipation aufgreifen zu lassen, und mit dem Habsburger-Abkömmling kann er politische Zwänge und den Glanz der Adelsgeschlechter in seinen Plot aufnehmen.

In der sehr angenehm zu lesenden Übersetzung erwarten uns jede Menge Abenteuer, gefahrvolle Situationen und Kämpfe, die unseren Erzählern nicht nur persönlichen Einsatz abverlangen, sondern sie auch immer wieder vor schwierige Entscheidungen stellen. Sollen sie der Doktrin folgen, die ihnen ihre jeweilige Gesellschaft vorgibt, oder sollen sie nach ihrem inneren Moralkompass handeln, das sind die Fragen, die sie sich, und mit ihnen der Leser, stellen muss. Dazu thematisiert der Verfasser, natürlich verklausuliert, auch, ob der technische Weg oder doch die Nutzung der Kräfte von Mutter Natur die zukunftsträchtige Entscheidung ist. Diese hintergründigen Gedanken, die während der Lektüre gar nicht sonderlich auffallen, verschaffen dem Text eine gerade für ein Abenteuerbuch, das sich an eine jugendliche Zielgruppe richtet, ungewöhnliche Tiefe.

Zu erwähnen sind hier natürlich auch noch die vielen, sehr stimmungsvollen Zeichnungen die den Text bildlich kongenial umsetzen.

In beeindruckender Art und Weise vereinen sich in dem Buch verbürgte Geschichte mit dem Bild einer eigenständig phantastischen Welt. Das hat Pepp und Dramatik, Tempo und intelligenten Witz, so dass man auf die folgenden Bände mehr als gespannt sein darf.