Alix E. Harrow: Die zehntausend Türen (Buch)

Alix E. Harrow
Die zehntausend Türen
(The Ten Thousend Doors of January, 2019)
Übersetzung: Aimée de Bruyn Ouboter
Titelbild: Stefanie Saw
Festa, 2021, Hardcover, 572 Seiten, 22,99 EUR (auch als eBook erhältlich)

Rezension von Carsten Kuhr

Lernen Sie die zunächst siebenjährige January Scaller kennen. Sie lebt in Vermont, Kentucky, im Haus des reichen Sammlers und Mäzens Mr. Locke. Ihr farbiger Vater und die ihr unbekannte weiße Mutter haben ihr als Erbe eine Hautfarbe mitgegeben, die sich von dem Üblichen unterscheidet und doch zieht Mr. Locke sie auf, als wäre sie sein eigen Kind. Januarys Vater reist jahraus, jahrein für Mr. Locke um die Welt, sucht und erwirbt (und stiehlt wohl auch) wertvolle Artefakte für die Gesellschaft, der der Sammler angehört.

In einer der ersten Szenen erleben wir mit, wie die damals noch kindliche January eine Tür in einem lange verlassenen, halb verfallenen Haus öffnet und durch diese in eine andere Welt tritt. Der Ruf Mr. Lockes zwingt sie nur allzu bald zurück; ein Kuss und eine Münze bleiben ihr als Beleg, dass sie nicht geträumt hat.

Zehn Jahre später eröffnet ihr Mr. Locke, dass ihr Vater auf seiner aktuellen Expedition verschollen, vermutlich verstorben ist. Innerlich gelähmt, findet sie in einer der alten ägyptischen Truhen, die im Haus ausgestellt werden, ein kleines, in Leder gebundenes Buch. In goldenen Lettern ist der Titel geprägt: „Das Haus der zehntausend Türen“.

Ein Titel, der sie neugierig macht, ein Buch, das ihr Unterhaltung, Trost und Wegweiser zugleich ist, hat sie doch, wie die Hauptperson des Romans, die Fähigkeit, Türen zu anderen Welten zu öffnen. Und sie begibt sich auf die Suche: nach dem verschollenen Vater, nach der ihr unbekannten Mutter, nach ihrem Schicksal und nach ihrem Platz in der Welt.


Was ist das für ein Roman, den Frank Festa in seiner All-Age-Reihe dem Publikum vorstellt?

Eine Coming-of-Age-Geschichte um ein farbiges Mädchen in den Südstaaten der USA, kurz nach der Jahrhundertwende. Eine Story, die wichtige Themen beinhaltet: das Recht und die Sehnsucht, sich selbst zu verwirklichen, sein Schicksal frei zu bestimmen etwa. Es geht aber auch um „Rassen“-Diskriminierung und Gleichberechtigung. Oder um sozialen Status und den Grenzen, denen January als Frau und Farbige hier unterliegt, um sexuelle Freiheit und um die Sehnsucht nach Liebe, Geborgenheit aber auch nach Abenteuer.

Dabei bietet sich der Plot nicht unbedingt reißerisch an. Es passiert wenig, die Handlung mäandert eher voran als das sie rast, dramatisch wird es eher in den beschriebenen Schicksalen, als dass wir um Leib und Leben unserer Erzählerin zittern müssen.

Es ist eine leise, eine einfühlsame Geschichte voller märchenhafter, nachdenklicher Momente, in der vorzüglichen Übersetzung von Aimée de Bruyn Ouboter.

Manches Mal stockt das so schon langsame Tempo fast gänzlich, bevor die Handlung dann doch zögerlich wieder Fahrt aufnimmt. Doch dies ist nicht wichtig, ganz im Gegenteil offeriert es dem Leser die Möglichkeit, sich Zeit zu nehmen für das Schicksal der Erzählerin. Man fühlt mit dieser mit, als über ihren Kopf hinweg über sie, ihr Schicksal und ihre Zukunft entschieden wird, als sie in die geschlossene Anstalt verbracht wird, kaum dass sie es wagt aufzubegehren.

Die Magie fügt sich ebenso unauffällig wie in sich überzeugend in die Handlung ein. Das sind einmal keine Zauberstäbe oder magische Formeln in den Kehlkopf malträtierenden, vergessenen Sprachen, das sind Worte und Türen, die verbinden, die Zutritt und Zugang verschaffen. Der wunderbar unaufgeregte, bildhafte Stil der Autorin und ihrer Übersetzerin vermitteln uns dies kongenial.

Dazu kommt das Stilmittel des Buchs im Buch, dessen Lektüre unserer Protagonistin und uns Hintergründe aber auch Rätsel, Erklärungen und dann wieder Fragen offeriert.

Das ist auf eine andere Art als sonst üblich spannend, das fasziniert mehr durch die angedeutete Magie, die Schicksale, die uns begegnen, und die Macht der Wörter. Wörter, die Türen in fremde Gefilde öffnen, die aber auch die Macht haben, Menschen zu verändern, Grenzen zu sprengen und Freiheit einzufordern. Nicht umsonst war dieser Debüt-Roman für nahezu alle großen Preise nominiert, bietet er doch einmal ganz andere, tiefgründigere Kost als sonst gewohnt.