Matt Haig: Die Mitternachtsbibliothek (Buch)

Matt Haig
Die Mitternachtsbibliothek
(The Midnight Library, 2020)
Übersetzung: Sabine Hübner
Droemer, 2021, Hardcover, 318 Seiten. 20,00 EUR (auch als eBook erhältlich)

Rezension von Gunther Barnewald

Die nicht mehr ganz junge aber auch noch nicht so alte Nora Seed hat nicht nur gerade ihren Job und ihren Nebenjob verloren, sondern auch noch ihre geliebte Katze Voltaire. Deshalb erfasst sie ein tiefer Blues, der sie mit ihrem bisherigen Leben hadern lässt.

Als sie beim Nachdenken auch noch den Eindruck gewinnt, dass kein Mensch auf der Welt mehr Wert auf ihre Anwesenheit legt oder sie braucht (kein Partner, beste Freundin nach Australien verzogen, kaum Kontakt zum Bruder, Eltern beide verstorben, einziger Klavierschüler abgesprungen, arbeitslos und der ältere Nachbar, dem sie geholfen hatte, kommt wohl wieder alleine klar), beschließt sie, sich umzubringen.

Deshalb schluckt sie eine große Menge von ihrem Antidepressivum und findet sich plötzlich in der sogenannten „Mitternachtsbibliothek” wieder. Hier wartet Mrs. Elm auf sie, die ältliche Bibliothekarin, die sie schon in ihrer Kindheit kannte, und erklärt ihr, dass die Bücher der Bibliothek aus Noras nicht gelebten Leben bestehen, also jenen Alternativen, gegen die Nora sich dereinst entschied.

In einem Leben wurde sie zur Leistungsschwimmerin und war bei der Olympiade, in einem anderen ist sie eine bekannte und beliebte Musikerin, in einem weiteren glücklich verheiratet, in noch einem anderen Leben hat sie sogar eine kleine Tochter.

Nora kann nun all diese Leben ausprobieren, um das idealste für sich zu finden und glücklich zu werden. Doch Nora merkt bald, dass jedes Leben auch einen Pferdefuß hat und keines davon perfekt ist. Zudem hat sie das Handicap, dass sie in jedem neuen Leben die Details des Lebens der jeweils anderen Nora nicht kennt. Und auf der Bühne zu stehen vor Tausenden von Fans und seine „eigenen” Lieder nicht zu kennen, ist natürlich ein echt peinliches Problem (welches Autor und Protagonistin aber gewitzt lösen!).

Doch je länger Nora sucht, desto mehr gerät die Mitternachtsbibliothek, in die sie nach jedem Fehlschlag zurückkehrt, ins Wanken und beginnt einzustürzen und in Flammen aufzugehen.

Wird Nora doch noch rechtzeitig das geeignete Leben für sich finden?


Matt Haig gelingt, trotz des anfänglich deprimierend wirkenden Themas, hier ein nicht nur unterhaltsames, sondern auch durchaus vergnügliches Buch.

Wenn Nora ihre alternativen Leben bereist, hat dies hohen Unterhaltungswert, wenn auch leider keinen größeren Tiefgang. Noras Leben bleiben leider sehr flüchtig und oberflächlich, so entsteht zumindest der Eindruck beim Leser (hier arbeitet der Autor sich nicht wirklich tiefer ein in die alternativen Schicksale seiner Protagonistin!).

Vergleicht man dieses Buch mit einem absoluten Meisterwerk mit ähnlichem Thema (nämlich Ken Grimwoods Klassiker „Replay - Das zweite Spiel“), dann wird deutlich, wie viel Potenzial Matt Haig hier verschenkt.

Festzuhalten bleibt aber auch, dass Haigs Roman, trotz großer Schwächen, extrem unterhaltsam und kurzweilig geraten ist und beim Rezipienten für hohes Lese-Vergnügen sorgen kann (wenn man sich auf die Prämisse der alternativen Leben einlassen kann; was auch erklärt, warum Nora zweimal überaus erfolgreich und berühmt wird, denn die Alternativen der gescheiterten Schwimmerin oder erfolglosen Musikerin probiert sie einfach gar nicht erst aus, was nur zu logisch ist!).

Auch ist es natürlich nicht so einfach, wenn man die anfängliche Handlung in einem Suizid-Versuch kulminieren lässt, die Geschichte noch zu einem überaus lebensbejahenden und optimistischem Buch zu wenden, was dem Autor aber recht gut gelingt.

Alles in allem ist „Die Mitternachtsbibliothek“ zwar kein wirkliches Meisterwerk (aber gut geschrieben und übersetzt), aber äußerst passable Unterhaltungsliteratur mit einem guten Schuss Phantasie und damit (wenn man keine größeren Ansprüche hat) durchaus empfehlenswert.