Michael Dissieux: Richtung Nirgendwo: Melodys Song (Buch)

Michael Dissieux
Richtung Nirgendwo: Melodys Song
Titelbild: Kathi Roestel
KOVD, 2020, Taschenbuch, 384 Seiten, 14,99 EUR, ISBN 978-3-96698-607-6 (auch als eBook erhältlich)

Rezension von Carsten Kuhr

Unser Erzähler ist ein leidlich erfolgreicher Versicherungsagent aus Wichita. Nach einer Firmenfeier in Baton Rouge wacht er eines durchzechten Morgens in seinem Hotelzimmer auf und merkt sofort, dass sich etwas grundlegend verändert hat. Nur was? Als er in den Gang tritt fällt ihm auf, dass es merkwürdig ruhig ist. Normalerweise klappert immer etwas, unterhalten sich Menschen zumeist lautstark; die ungewohnte Stille ist verstörend.

Als er mit dem Lift in die Lobby kommt, erwartet ihn ein leerer Raum. Angefangene Drinks stehen auf den Tischchen, Gepäckstücke vor der Rezeption - doch wo nur sind die Menschen?

Auf der Straße ein ähnliches Bild. Alles ist wie sonst, nur die Menschen fehlen. Was ist passiert? Nirgendwo stößt er auf menschliches Leben, selbst Leichen sucht er vergebens. Ist er tatsächlich der letzte auf Erden verbliebene Mensch? Und was ist mit seinen Freunden und seiner Familie passiert?

In den nächsten drei Jahren bereist er den Süden der USA, immer auf der Suche nach anderen. Im Traum, oder doch eher Visionen, begegnet ihm sein Vater, ein vom Krieg gezeichneter Mann mit dem er die tiefgehenden Gespräche führt, für die früher keine Zeit war, kein Anlass bestand.

Schließlich stößt er doch noch auf zwei andere Überlebende, einen alten, ehemaligen Pfarrer und ein junges, stummes Mädchen, das ihn an seine verschwundene Tochter erinnert. Zusammen begeben sie sich durch ein menschenleeres Land in Richtung Jacksonville, wo sie hoffen, auf überlebenden Verwandte des Mädchens zu stoßen.


Michael Dissieux hat mit seiner im Luzifer Verlag erschienen Dystopie um das Graue Land auf sich aufmerksam gemacht. Vorliegender Einzelroman erschien vor Jahren im Selbstverlag und wird nun von KOVD neu zugänglich gemacht.

Wieder entführt uns der Autor in eine apokalyptische Zukunft. Wer nun aber annimmt, dass er eine bloße Kopie seiner Erfolgs-Trilogie vorgesetzt oder einen der üblichen Zombie-Romane oder einen „Mad Max“-Abklatsch angeboten bekommt, der reibt sich überrascht die Augen. Dissieux legt eben gerade kein actiongeladenes Roadmovie vor, sondern überrascht den Leser mit sehr tiefgreifenden Gedanken.

Ein Mann, offensichtlich allein auf der Welt verblieben, macht sich auf die Suche nach anderen Überlebenden; in erster Linie aber auf die Suche nach sich selbst. Immer wieder taucht unser Ich-Erzähler in die Vergangenheit ein, lässt Bilder von Frau und Tochter, vom Vater auftauchen. Die äußere Leere der Welt gibt ihm die Gelegenheit, sein Inneres, seine Gefühle, seine Gedanken, seine Hoffnungen anzuschauen und sich damit zu beschäftigen. Das wirkt oft melancholisch, erstaunlicherweise aber nie depressiv.

Erstaunlich dabei auch, dass der Autor viele Fragen bewusst offen lässt. Hier kann sich der Rezipient selbst ein Bild machen, Vermutungen anstellen - ganz nach Gusto. Wichtig sind diese Fragen für den Plot aber nicht. Dem Autor geht es um seinen Menschen, der letztlich versucht, mit sich selbst ins Reine zu kommen, neue Hoffnung zu schöpfen.

„Richtung Nirgendwo: Melodys Song“ ist ein philosophisch angehauchter postapokalyptischer Selbstfindungsroman, der uns einen Autor zeigt, der abseits ausgetretener Pfade und ohne die üblichen Versatzstücke zu fesseln weiß.