Astonishing X-Men 3 (Comic)

Matthew Rosenberg
Astonishing X-Men 3
(Astonishing X-Men Annual 1 + Astonishing X-Men 13-17, 2018/2019)
Übersetzung: Robert Syska
Titelbild: Mark Brooks
Zeichnungen: Neil Edwards, Travel Foreman, Greg Land u.a.
Panini, 2019, Paperback, 148 Seiten, 16,99 EUR, ISBN 978-3-7416-0856-0

Rezension von Irene Salzmann

Bei einer Art Klassentreffen der X-Men, bei dem der verstorbene Cyclops fehlt und der wiederauferstandene und veränderte Professor Xavier im Körper von Fantomex anwesend ist, werden die erwachsenen und desillusionierten Schüler mit einer Bedrohung konfrontiert, welche sie zu Entscheidungen zwingt, die sie von ihren Überzeugungen her ablehnen. Danach ist alles anders, und selbst Jean Grey erkennt nicht die Manipulation - oder die Wahrheit?

Havok verblieb nach der „Axis“-Stoyline, in der Helden in Schurken und umgekehrt transferiert wurden, einer der Bösen aus freiwilligen Stücken, da er sich nicht seinen Gewissensbissen stellen wollte angesichts der Taten, die er begangen hatte, nachdem er ‚umgedreht‘ worden war. Danach wurde er ein Gefolgsmann von Emma Frost, die ihre einstigen Verbündeten wieder zu bekämpfen begann, und sie konvertierte ihn schließlich zurück zu seinem wahren Wesen.

Seither lebt Havok mit starken Schuldgefühlen und möchte Wiedergutmachung leisten, doch jeder sieht in ihm nach wie vor den Schurken, woran einige glücklose Hilfsaktionen nichts ändern. Weder bei den Avengers noch den X-Men will man ihn haben, so dass er beschließt, sein eigenes X-Team zu gründen, obwohl ihm Kitty Pryde untersagt, seine Gruppe als X-Men zu bezeichnen.

Seine Favoriten sind Beast, Forge und Colossus. Einer lehnt rundweg ab, weil er ein interessanteres Aufgabenfeld gefunden hat, der nächste sagt erst zu, nachdem ihm aufgrund eines Angriffs seine Stelle gekündigt wurde, und der dritte macht mit, weil er so frustriert ist, dass ihm jeder Anlass, jemanden verprügeln zu dürfen, recht ist. Hinzu kommen Mitglieder, die Havok gar nicht haben wollte: Warpath, der ihn in Kittys Auftrag im Auge behalten soll, der von den Toten wiederauferstandene und von Beast kontrollierte Banshee sowie Dazzler, deren Comeback zu einem Flop wurde und die nichts lieber wäre als wieder ein X-Men.

Das Unglück bleibt Havok weiterhin treu. Als Colossus von Regierungstruppen entführt wird, sorgt er für ein Bündnis mit den Reavers, die ebenfalls Leute verloren haben. Aber darf den Cyborgs unter solchen Umständen wirklich vertraut werden? Und dürfen die Kameraden Havok vertrauen, der ein Geheimnis hütet?


Die Gruppe, die sich diesmal unter dem Titel „Astonishing X-Men“ zusammenfindet, hat es in dieser Konstellation noch nie gegeben. Maximal waren zwei (oder drei?) der Genannten irgendwann einmal zur gleichen Zeit in einem X-Team (zum Beispiel Beast und Havok, Banshee und Colossus, Dazzler und Havok). Infolgedessen ergeben sich aus dem Zusammenspiel der Charaktere neue Möglichkeiten sowohl im Kampf als auch im persönlichen Miteinander. Darin liegt natürlich ein großer Reiz, der leider rigoros abgewürgt wird, weil dieser Band vorerst der letzte sein soll und das Ende die Schicksale der Einzelnen offen lässt.

Das empfindet der Leser doch als sehr enttäuschend, da diese an sich zusammengewürfelte, kaputte Truppe eine Menge Potenzial besaß, welches nicht ausgeschöpft wird. Praktisch jeder der Beteiligten agierte zuletzt äußerst glücklos, beging Fehler oder/und wurde von den Gegnern manipuliert und missbraucht, doch selbst die langjährigen Freunde kennen ihnen gegenüber kein Pardon. Insbesondere Havok, der stets im Schatten seines älteren Bruders Cyclops stand, wird die Chance verweigert zu beweisen, dass er wieder sein altes Selbst und besser als sein Ruf ist.

Besonders enttäuschend ist, dass gerade Kitty Pryde extrem ablehnend reagiert. Sonst war sie es immer, die für sich (ihre Jugend) und andere, denen man mit Misstrauen begegnete (unter anderem Pete Wisdom), vehement einsetzte, für Versöhnung und Kompromisse eintrat (vergleichbar beispielsweise Spider-Man und Rogue, selbst lange Außenseiter, die einer Zusammenarbeit mit Deadpool trotz ihrer eigenen Erfahrungen bloß unter extremen Bedingungen zustimmen). Man gewinnt dadurch den Eindruck, dass sogar in der großen und für gewöhnlich um Konsens bemühten X-Familie derzeit eine ungewöhnliche Intoleranz herrscht: Wer nicht auf Linie ist, wird ausgegrenzt. Selbst auf Wolverine in seinen Anfangstagen wurde nicht so viel Druck ausgeübt, wenn er die Drecksarbeit übernahm und, statt give peace a chance zu singen, den einen oder anderen Mörder zur Strecke brachte. Doch es gibt Überraschungen, weil der eine oder andere hinter Havoks Fassade blickt und die Wahrheit sieht.

Die Serien sind insgesamt härter geworden, und es gibt, anders als früher, regelmäßig Todesopfer. Das belegt auch das Annual, das in keiner Beziehung zu den fünf Teilen „Bis zum letzten Atemzug“ steht. Was man von dieser Story, „Wer wir sind“, zu halten hat, wird wohl erst die Zukunft zeigen, denn der wiederauferstanden Professor Xavier ist vom Wesen her ein anderer, dessen Kräfte immer noch die von Super-Jean, ebenfalls von den Toten zurück, übersteigen.

Zwar wünschen sich die Mutanten immer noch ein unbelastetes Leben Seite an Seite mit Nicht-Mutanten und anderen Wesen, die sie immer wieder beschützen, schon um zu zeigen, dass sie nicht der Feind sind, aber zunehmend fokussieren sie sich auf ihre eigenen Interessen (wie früher  unter anderem Magneto und Emma Frost, die deshalb bekämpft wurden), weil sie lediglich ihr Recht auf ihre Existenz einfordern, ohne anderen dadurch etwas streitig machen, niemanden verdrängen zu wollen - ganz im Gegenteil.

Dieser rote Faden, dass viele ‚Normalmenschen‘ den Homo Superior fürchten, durchzieht alle „X“-Serien seit Beginn und wird regelmäßig thematisiert. Eine Minderheit, die die Mehrheit vor Unheil zu warnen und beschützen versucht, wird diffamiert, verfolgt und immer wieder attackiert. Dazu findet man durchaus Beispiele in der Realität.

Die Zeichnungen sind recht gefällig, sehr annehmbar, wenn man nicht gerade die Illustrationen von Jim Lee, Marc Silvestri, Alan Davis und anderen Künstlern, die um 1990 die Titel prägten, vor dem inneren Auge hat.

Der Band kann ohne große Vorkenntnisse auch Gelegenheitslesern gute Unterhaltung bescheren, inhaltlich und optisch. Ansonsten hat sich Marvel selbst ins Knie geschossen, weil dieser vielversprechende Beginn einmal mehr dem ‚jetzt wieder neu - Leute, steigt in eine Handlung mit Punkt 0 ein‘ geopfert wurde. Dass es keine Kontinuität und ständig Neuanfänge gibt, nervt.