Wiebke Lorenz: Einer wird sterben (Hörbuch)
- Details
- Kategorie: Rezensionen
- Veröffentlicht: Dienstag, 28. Mai 2019 20:12

Wiebke Lorenz
Einer wird sterben
Vollständige Lesung von Christiane Marx
Argon, 2019, 6 CDs, ca. 439 Minuten, ca. 19,95 EUR, ISBN 978-3-8398-1688-2
Rezension von Irene Salzmann
Für die Lehrerin Stella ist es Liebe auf den ersten Blick, als ihr der Flugkapitän Paul Johannsen begegnet. Sie hilft dem Glück ein bisschen nach, um ihn kennenzulernen. Ihre Beziehung ist noch jung, als Stella erfährt, dass Paul verheiratet ist, sich seine Frau Nathalie gerade von ihm getrennt hat und nun zu ihm zurück will. Der Abend zu dritt ist unangenehm, es fließt viel Alkohol, und Paul will Nathalie zu ihrer Wohnung fahren. Prompt kommt der Wagen von der Straße ab, und Nathalie stirbt an ihren schweren Verletzungen.
Stella nimmt die Schuld auf sich und behauptet, sie sei die Fahrerin gewesen, damit Paul nicht die Pilotenlizenz verliert. Ergriffen von Stellas Liebe zu ihm, heiratet Paul seine Freundin, ohne jemanden von ihren Familien einzuladen, und bezieht mit ihr die kleine Villa, in der er mit der vermögenden Nathalie gelebt hat und die ihm nach deren Tod zugefallen ist.
Dann steht eines Tages ein Auto vor dem Grundstück, das dem damaligen Wagen von Paul ähnelt. Darin sitzen ein Mann und eine Frau, ohne etwas zu unternehmen. Das Fahrzeug bleibt Tag und Nacht und irritiert die Nachbarschaft. Die Insassen werden auch nicht von der Polizei zum Wegfahren ermahnt, da kein Gesetz die Präsenz des Autos auf einem öffentlichen Parkplatz verbietet. Jeder, der das Gespräch mit dem Paar sucht, zieht sich nach einigen nichtssagenden Wortwechseln genauso verwirrt wie zuvor zurück.
Stella wird immer nervöser, denn die Unbekannten scheinen mehr über Nathalies Tod zu wissen. Sind sie vielleicht sogar die Absender des USB-Sticks, auf dem sich ein Film befand, der in jener verhängnisvollen Nacht Paul am Steuer zeigt? Aber warum haben sie sich dann so viel Zeit damit gelassen, Paul und Stella erneut unter Druck zu setzen? Und was wollen sie eigentlich? Seit dem Hiersein des Paares häufen sich merkwürdige Vorkommnisse, und auch die Nachbarn lassen nach und nach die freundlichen Masken fallen, denn insgeheim sahen sie in Stella von Anfang an einen Eindringling, der sich in das von Nathalie gemachte Nest gesetzt hat.
In ihrer Not wendet sich Stella an Paul, doch aufgrund seines Dienstplans ist er kaum erreichbar und bagatellisiert zudem die Sorgen seiner Frau. Als er endlich verspricht, vorzeitig nach Hause zu kommen, wartet sie vergeblich auf seine Heimkehr. Obendrein muss sie feststellen, dass er so Manches vor ihr geheim hält. Und dann scheint es gar, als sei er entführt worden, damit Paul und Stella mit der schmerzlichen Wahrheit herausrücken, die anders ist, als jeder annahm - und wie beide bis dahin stets behauptet haben.
Der Thriller beginnt wie das Märchen von Aschenputtel und dem schönen Prinz: Stella angelt sich ihren Traummann und zahlt mit einer Lüge und einer entstellenden Narbe im Gesicht für ihr Glück. Während sie in all den Ehejahren immer noch glaubt, das große Los gezogen zu haben, gibt es doch einen Wermutstropfen, nämlich die häufige Abwesenheit ihres Mannes, über das sie auch Kater Paulchen und die Mitbringsel von den Reisen nicht hinwegtrösten können.
Ebenfalls für Unmut sorgt nach Jahren des Schweigens die Kontaktaufnahme seines Patenkinds zu Pauls und somit zur Familie seiner verstorbenen Frau. Stella bleibt eine persona non grata, und sie nimmt es ihm übel, dass er sich nicht für sie einsetzt oder ihr zuliebe auf die erneuerte Beziehung verzichtet.
Nachdem durch diese Vorkommnisse bereits ein Schatten über die Ehe fiel, summieren sich plötzlich alarmierende Ereignisse, die darauf hinweisen, dass jemand die Wahrheit über Nathalies Unfalltod kennt und das Glück der beiden zerstören will. Ausgerechnet als das Pärchen in dem Wagen das Haus der Johannsen beobachtet, ist Paul außer Landes, kaum zu erreichen, und wenn er mal ans Telefon geht, nimmt er Stella nicht ernst oder speist sie mit beruhigenden Worten ab.
Notgedrungen versucht Stella, selbst mit all den Attacken und bizarren Vorkommnissen fertigzuwerden; sie hat ohnehin keine Wahl. Während sie herauszufinden versucht, wer dahinterstecken könnte, muss sie erkennen, dass ihr Paul wichtige Dinge verschwiegen hat - und dass er immer noch sehr viele Bilder von Nathalie auf seinem Notebook aufbewahrt, als hege er nach wie vor Gefühle für die Tote. Trotzdem will Stella nicht an ihm zweifeln und begibt sich auf die Suche nach ihm, als er nicht nach Hause kommt und gleichzeitig der Wagen vor ihrem Grundstück verschwunden ist.
Die Situation eskaliert zunehmend in einer Weise, wie sie der Leser beziehungsweise Zuhörer nicht hat kommen sehen. Seine Sympathien gelten Stella, die allein auf sich gestellt ist und aus ihrer Sicht schildert, wie alles um sie herum zusammenbricht. Weder die angeblich verständnisvollen Nachbarn, die eigene Sorgen haben oder im Rahmen von ‚Männer unter sich‘ gegen ihre Frauen zusammenstehen, noch von Paul hat sie wirklich Hilfe zu erwarten, wie Stella und dem Publikum bald klar wird.
Anders als in dem Film „Piraten im Karibischen Meer“ (1942, mit John Wayne, Ray Milland, Paulette Goddard), in dem der ursprüngliche Held Captain Jack Stuart nach dem Verlust seines Schiffes bezichtigt wird, dessen Untergang absichtlich herbeigeführt zu haben, und kurz vor seiner Rehabilitierung so unvermittelt die Seiten wechselt, als wäre ein Schalter umgelegt worden, geht hier die Autorin subtiler vor, indem sie den Hörer durch falsche Spuren lange im Unklaren darüber lässt, was wirklich los ist und was tatsächlich in der Unfallnacht geschehen ist.
Tatsächlich wurde ein Komplott inszeniert, das die Wahrheit ans Licht bringen sollte und dann auch Dinge aus dem Dunkel holt, mit denen keiner gerechnet hat. Jedenfalls stellt das erschütternde Ende den Verlauf der ganzen Handlung auf den Kopf - eine echte und brutale Überraschung, überzeugend vorgetragen von Christiane Marx.
„Einer wird sterben“ gehört zu den Thrillern, bei denen man anfangs denkt, ‚oje, wieder so ein wehleidiges Ehedrama mit hysterischer Protagonistin‘, was man zunächst bestätigt glaubt, doch dann nimmt die Handlung Fahrt auf, erlaubt Spekulationen, verunsichert durch neue Erkenntnisse und nimmt ein Ende, das völlig anders ist, als erwartet.
Wirklich gelungen!