François Loeb: Zeitweichen (Buch)
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- Kategorie: Rezensionen
- Veröffentlicht: Donnerstag, 02. Mai 2019 17:12

François Loeb
Zeitweichen
Allitera, 2017, Paperback, 164 Seiten, 14,90 EUR, ISBN 978-3-86906-927-2 (auch als eBook erhältlich)
Rezension von Irene Salzmann
Zeit ist etwas, das jeder anders und grundsätzlich abhängig von der Situation empfindet. Ein kleines Kind hat das Gefühl, dass die Zeit gar nicht verstreichen will bis zum Geburtstag oder der Bescherung an Weihnachten. Einem Schüler kommt die langweilige Französischstunde ewig vor, die Zeit für die Lösung der Klassenarbeit hingegen viel zu kurz. Der Patient ärgert sich über die lange Wartezeit, bis er endlich den Arzt viel zu kurz sprechen darf, weil schon der nächste aufgerufen wird. Den älteren Menschen verfliegt die Zeit immer schneller, wenn sie feststellen, dass das Kind, das sie in ihrer Erinnerung noch immer als Baby sehen, plötzlich erwachsen ist. Und die Lebenszeit verrinnt immer rascher, je mehr Jahre man bereits gesehen hat.
Es gibt Momente, in denen man sich wünscht, die Zeit verginge schneller, weil man eine unangenehme oder bedrohliche Situation gern schon hinter sich hätte. In schönen Augenblicken würde man die Zeit gerne anhalten, um das Ereignis länger genießen zu können. Je älter man wird, umso mehr wird einem bewusst, dass man die Uhr weder vor- noch zurückdrehen kann, dass man die Zeit nutzen sollte, um viel Schönes zu erleben, um später auf ein erfülltes Leben zurückblicken zu können.
Das heißt, man sollte das Beste aus all den Zeiten machen, aus denen sich das Leben zusammensetzt: Uhrzeit, Arbeitszeit, Altersteilzeit, Lernzeit, Essenszeit, Familienzeit, Mutter-und-Kind-Zeit, Wartezeit, Fahrzeit, Schonzeit, Freizeit, Urlaubszeit, Spielzeit, Lesezeit, Jahreszeit, Eiszeit, Warmzeit, Nullzeit, Zeitgeist, Zeitnot, Zeitschrift, Zeitung, Herbstzeitlose und so weiter. Je länger man darüber nachdenkt, umso mehr Wörter findet man, in denen ‚Zeit‘ vorkommt.
Auch die (Phantastische) Literatur beschäftigt sich mit der Zeit. Die Autoren beschreiben das Phänomen der Zeitreise („Die Zeitmaschine“), die den Besuch der Vergangenheit und einer möglichen Zukunft erlaubt, während der Reisende normal oder anders altert. Auch die überlichtschnelle Raumfahrt oder Teleportation („Perry Rhodan“) ist eine Art Zeitreise, da Raum/Bewegung und Zeit verknüpft werden. Es gibt Zeitdiebe („Momo“), die den Menschen die kostbare Zeit stehlen, und Zeitpolizisten („Hüter der Zeit“), deren Auftrag lautet, Zeitmanipulationen zu verhindern. Und das sind bloß wenige Beispiele.
Der in Bern gebürtige und im Schwarzwald lebende Autor François Loeb hat sich in „Zeitweichen“ in 92 Kurzgeschichten und Lyriken dieses Themas angenommen.
In „Zeitimpfung“ wird nach einem Mittel gesucht, welches das schnelle Verrinnen der Zeit und den daraus entstehenden Druck auf die Menschen beenden soll. Der sinnvollste Gedanke lautet, sämtliche Zeitmessgeräte abzuschaffen, ja, sie zu zerstören. Aber wie soll die Gesellschaft dann funktionieren?
Schon das wiederholte Erzählen einer altbekannten Geschichte, das Warten auf einen verspäteten Zug, die Warteschleife an Telefon und vieles mehr fallen unter das Stichwort „Zeitdiebstahl“, denn man könnte diese Minuten, die sich zu Stunden, Tage, Wochen und Jahre summieren, viel besser nutzen.
Weiß die Raupe vor der „Puppungszeit“, dass sie ein Falter wird - und erinnert sich der Schmetterling an sein früheres Dasein? Eine Frage, die ohne Antwort bleibt.
Im „Zeitmuseum“ kann jeder Momente aus der Vergangenheit sehen, und auch für ihn ist dort bereits ein Platz reserviert.
„Der Zeitverband“ stellt einen Forderungskatalog seiner Mitglieder zusammen, die alle ihre eigenen Interessen wahren wollen, aber die Zeit bekommt Flügel und fliegt davon.
Der Autor nähert sich der Zeit aus verschiedenen Blickwinkeln. Dabei nutzt er vor allem Kurzprosa, seltener die Lyrik, um seine Gedanken in Worte zu fassen. Die manchmal bloß wenige Zeilen, sogar bloß ein Wort und nie mehr als vier Seiten umfassenden Erzählungen sind keine Spannungsgeschichten. Es handelt sich um nachdenkliche, experimentelle Storys und Essays, die teils ausdrücken, worüber sich viele schon Gedanken gemacht haben, und die teils zum Nachdenken anregen sollen, wie man mit seiner Zeit besser umgehen könnte.
Letztendlich gibt es keine Patentlösung, denn die Zeit lässt sich nicht aufhalten. Eigentlich ist sie die Angst vor dem Tod, dass man stirbt, ohne eine Spur zu hinterlassen. Tröstlich ist der Gedanke, dass der Mensch in der Zeit wie das Rädchen im Getriebe wirkt: Er hat eine Aufgabe, in irgendeiner Form wird er seinen Fußabdruck in der Zeit hinterlassen, und wenn sein Leben endet, so bleibt mehr von ihm als, laut „Bibel“, Asche und Staub. Sein Dasein war keinesfalls umsonst, sondern wichtig im Rahmen des großen Ganzen.