Guy Newell Boothby: Die Expedition des Doctor Nikola (Buch)
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- Kategorie: Rezensionen
- Veröffentlicht: Montag, 02. August 2010 09:54
Guy Newell Boothby
Die Expedition des Doctor Nikola
Doctor Nikola 2
(Doctor Nikola)
Aus dem australischen Englisch übersetzt von Michael Böhnhardt
Titelillustration von Erst Wurdack
Wurdack, 2010, Paperback mit Klappenbroschur, 214 Seiten, 13,95 EUR, ISBN 978-3-938065-63-1
Carsten Kuhr
Ein gutes halbes Jahr ist es nun her, dass im Wurdack Verlag einer der zu seiner Zeit gefeiertsten, zwischenzeitlich weitgehend vergessenen Autoren wiederentdeckt wurde. Der gebürtige Australier Guy Newell Boothby, der später in England zu Weltruhm gelangte, ist das, was man heute gemeinhin als einen Bestellerautor bezeichnen würde. Lesermassen waren von seinen abenteuerlichen Geschichten mit einer Prise Übernatürlichem fasziniert und warteten ungeduldig auf Nachschub.
Mit Doctor Nikola schuf der produktive Boothby dabei wohl den ersten Serienschurken der Unterhaltungsliteratur. Ein hochintelligenter Mann, ein Wissenschaftler mit schier unglaublichen Fähigkeiten und ohne jegliche Moral, dabei umgänglich und höflich, war er der Vorgänger von Moriarty, Mabuse und Co. Schon äußerlich kommt uns das angenehm in der Hand liegende Paperback in Klappenbroschur sehr gediegen entgegen. Das passend zum Inhalt vom Verlagsleiter selbst gefertigte Titelbild stimmt auf den Inhalt ein.
Rekapitulieren wir noch einmal die bisherigen Geschehnisse. Doctor Nikola hat sich durch Erpressung, Raub und Entführung eines kleinen Stäbchens mit chinesischen Schriftzeichen bemächtigt (vgl. „Die Rache des Doctor Nikola“). Die Handlung des vorliegenden Bandes setzt zeitlich nahtlos an.
Boothby entführt seine Leser in die schillernde Kulisse Shanghais. Hier begegnen wir Wilfried Bruce, einem englischen Abenteurer, den das Glück verlassen hat. Trotz des Willens hart zu arbeiten, seinen unbestrittenen Fähigkeiten – unter anderem beherrscht er die chinesischen Idiome fließend – und seiner umgänglichen Art findet er keine Anstellung. Am Ende seiner finanziellen Möglichkeiten angekommen lernt er Doctor Nikola kennen, der ihm einen Vorschlag unterbreitet. Bruce soll Nikola bei der Infiltration einer chinesischen Sekte helfen. Beide wollen sich, als Chinesen verkleidet, in den Haupttempel der Sekte tief im tibetanischen Hochland einschleichen und dort die streng gehüteten Geheimnisse um das ewige Leben stehlen. Verfolgt von finsteren Agenten und Mordbuben, behindert durch die wahre Liebe, die unerwartet und unverhofft Wilfried Bruce heimsucht, nähern sie sich dem Hauptsitz der Geheimgesellschaft. Werden sie nicht nur die in Jahrhunderten zusammengetragenen, okkulten Geheimnisse des Verbrecherordens stehlen können, sondern auch noch sicher an Leib und Seele entkommen? Die Wahrscheinlichkeit und ihre in allen kriminellen Bereichen versierten Opfer sprechen eigentlich dagegen....
Im ersten Band der Erzählungen um Doctor Nikola lernten wir diesen ganz durch die Augen seiner Opfer kennen – und fürchten. Nikola wurde uns als hochintelligenter, ja genialer Wissenschaftler vorgestellt, der seine Geistesgröße allerdings skrupellos zur Erreichung seiner egoistischen Ziele einsetzt. Moral und Anstand schienen ihm fremd, so dass er in den Augen der Leser zur Persona non Grata degradiert wurde. Auch vorliegend hat Boothby wieder einen Mann als Erzähler ausgewählt, der in Nikolas dunkle Pläne und Machenschaften verwickelt wird. Wie üblich nutzt der Autor einen innerlich aufrechten Briten, dem das Schicksal nicht wohlgesonnen ist als Protagonisten. Ein Mann aus dem Volk, nicht zu begütert oder aus einem alten Adelsgeschlecht, aber eine ehrliche, sympathische Haut schien als Identifikationsfigur am besten geeignet. Dass dieser im Verlauf der Handlung sein Glück findet, trotzdem aber zu seinem Wort steht; macht ihn zum Vorbildbriten des Weltreichs.
Erstaunlich ist dann aber, wie der Autor seinen Bösewicht portraitiert. Zwar wird Nikola immer noch als egoistischer Verbrecher dargestellt, der zum Erreichen seiner Ziele vor massiver Gewalt nicht zurückschreckt, Verbündete wie auch Feinde durch seine Hypnosegaben in Angst und Schrecken versetzt, gleichzeitig aber auch als Gentleman, der treu zu seinem Gefährten steht und der sein Wort hält, auch wenn dies für ihn selbst Nachteile in sich birgt. Mehr noch, plötzlich sehen wir Nikola mit anderen Augen. Als treuen Gefährten, der sich um die Gesundheit seines Kameraden kümmert, der sein eigenes Leben in Gefahr bringt, um seinen Verbündeten zu retten. Das weist gerade für die Zeit, in der die Romane entstanden (1896) ein erstaunlich differenziertes Bild auf. Statt uns nur einen aus der Ferne beobachteten finsteren Bösewicht voller moralischer Abgründe zu offerieren; erwartet uns hier das Bild eines Mannes, der vielschichtig, aber gleichzeitig gerade deshalb glaubwürdig und überzeugend dargestellt wird. Das ist ein Mann, der Sympathien erntet, der unterhaltsam und charismatisch auf seine Umgebung wirkt, der in seinen eigenen, weitgezogenen Grenzen verlässlich, ja freundschaftlich agiert. Statt einem teuflischen Verbrechergenie also ein ungleich interessanterer Gentleman-Verbrecher, ein Forscher, der als begnadeter Arzt seine Patienten einfühlsam und kompetent behandelt, dabei aber geradlinig sein Ziel – die körperliche Unsterblichkeit – verfolgt. Seine besonderen Gaben, über die mehr gemunkelt wird, als dass diese wirklich zum Einsatz kommen, sein fast schon übernatürliche Kraft der Hypnose und seine Fähigkeit, aus kleinsten Körpergebärden auf Gedanken seines Gegenüber zu schließen steuern der Handlung den damals wie heute interessanten Mystizismus bei. Der stilistische Trick, den Antagonisten dieses Mal mehr von innen, direkt von einem seiner Helfer beleuchten zu lassen, führt zu einer größeren Intimität und Akzeptanz des Mannes. Man muss es zugeben, so verwerflich seine Handlungen auch sein mögen, unsympathisch ist uns Doctor Nikola in diesem Band zumindest wahrlich nicht. Stattdessen schleicht sich eine Art Bewunderung für den Bösewicht ein, zieht man den Hut vor seinen Fähigkeiten und seinem Durchsetzungsvermögen.
Action gibt es reichlich, eine alte Geheimgesellschaft, die Kontinente übergreifend als mächtigste Organisation des Planeten verborgen vor den Augen der Welt ihre Herrschaft ausübt und sensationelle Geheimnisse und Erkenntnisse hütet, darf nicht fehlen. Das sind beste Thrillerelemente, gemischt mit Schauer- und Abenteuerplots, so dass man Boothby als legitimen Vorläufer solcher Auflagegrößen wie Dan Brown oder Clive Cussler ansehen kann.
Auch in unserer Zeit haben die vorzüglich übersetzten Bände ihre Anziehungskraft nicht verloren, fesseln den Leser an die Seiten und entführen ihn in ein glaubwürdig gezeichnetes China Ende des 19. Jahrhunderts. Eine Entdeckung für alle, die das Abenteuer abseits technischer Gimmicks vermissen.