Richard Harland: Worldshaker (Buch)
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- Kategorie: Rezensionen
- Veröffentlicht: Donnerstag, 22. Juli 2010 17:35
Richard Harland
Worldshaker
(Worldshaker)
Aus dem australischen Englisch übersetzt von Werner Leonhard
Titelillustration von Hans Baltzer
Verlag Jacoby & Stuart, 2010, Hardcover, 396 Seiten, 16,95 EUR, ISBN 978-3-941787-07-0
Carsten Kuhr
Haben Sie auch als Heranwachsender die Abenteuerromane aus der Feder Jules Vernes verschlungen? Sind mit Kapitän Nemo bis auf den Meeresgrund getaucht, mit Philias Fogg rund um den Erdball gerast und mit einer Riesenkanone zum Mond geschossen worden? Wenn Sie derartig phantastische Abenteuer unbedarft an Leib und Seele überstanden haben, ja mehr noch, an entsprechenden Büchern Gefallen fanden, dann ist das im deutschen Sprachraum unverständlicherweise verpönte Steampunk-Genre das Richtige für Sie.
Harland entführt uns in eine Parallelwelt die er zeitlich ca. 100 Jahre nach der Regentschaft von Königin Victoria ansiedelt. In dieser Welt wurde Napoleons Plan, den englischen Kanal zu untertunneln und über den Tunnel England anzugreifen und zu erobern, in die Wirklichkeit umgesetzt. Die Creme de la Creme des Britischen Empires hat sich auf Worldshaker, eine gigantische, von Dampfturbinen angetriebene bewegliche Stadt – einen Juggernaut – gerettet. Hier leben, streng getrennt nach ihrer Herkunft und Klasse, die königliche Familie und ihre Aristokraten, die Handwerker und die Dreckigen, vor sich hin vegetierende Menschen, deren Leben nur aus schwerer körperlicher Arbeit besteht. Auf den altbekannten Handelswegen über Flüsse, Gebirge und durch Wüsten und Meere ziehen die Juggernauts der unterschiedlichen Großmächte ihre Routen, immer auf der Suche nach vorteilhaften Handelsabschlüssen.
Colbert Porpentine entstammt einem, nein dem seit Generationen die Macht innehabenden Adelsgeschlecht. Sein Großvater, Sir Mormus, ist Oberbefehlshaber des gigantischen Molochs, er selbst soll, nachdem sein Vater die sozialen Missstände in Zusammenhang mit den Dreckigen nicht ertrug, sein Nachfolger werden. Aufrecht, mutig und hart, das haben die Porpentines zu sein, Führer, Anführer die ihre Feinde brechen, ihre Frauen verwöhnen und die Königin leiten – so sieht der Mann sich und die Zukunft seines Enkels.
Just als er Col zu seinem designierten Nachfolger benennt, entkommt aus dem abgeschotteten unteren Decks eine Dreckige. Dass sie ausgerechnet in Cols Zimmer Zuflucht sucht, bringt den jungen Mann in Gewissensnöte. Sie ist so ganz anders, als er die Dreckigen erwartet hat. Nicht nur, dass sie sprechen kann, sie ist auch noch flink, jung und hat einen aufgeweckten Geist. Riff erdreistet nicht nur ihn zu küssen, sondern öffnet ihm in der Folgezeit auch die Augen für die verschwiegenen Wahrheiten hinter den stählernen Wänden und gut gesicherten Schotts des Stadt. Tief unten, weit unterhalb der Decks, die er aufgrund seiner Herkunft bewohnt, findet er eine Welt die sich markant von den im Unterricht vermittelten Wahrheiten unterscheidet. Kann, soll, ja muss er mit den Traditionen brechen, soll er sein ganzes Weltbild, sein Leben und das seiner Familie aufs Spiel setzen um die sozialen Ungerechtigkeiten, die Ausbeutung und Unterdrückung zu beenden – und kann ihm dies überhaupt gelingen?
Wandernde Städte – das gab es doch schon einmal. Richtig Philip Reeves legte vor einigen Jahren mit „Mortal Engines“ (dt.: „Großstadtjagd“, Beltz & Gelberg) entsprechende Titel vor. Doch Harland geht wieder ganz andere, eigene Wege in seinem Roman, der bei Allen & Unwin als Young Adult Novel – also als Buch für Jugendliche Leser ab 15 Jahren – ins Rennen geschickt wurde.
Der Plot ruht dabei auf zwei großen Säulen. Zum einen sind dies die beiden Hauptfiguren, zum anderen die düster-realistisch gezeichnetE Welt der unteren Decks. Es geht um ungezügelte Industrialisierung, um ein an eigener Größe und damit verbundener Impertinenz niedergegangenes Imperium, um Klassenkampf. Revolution liegt in der Luft, es geht aber aber auch um Liebe, Vertrauen und Verantwortung. Zwar erscheint insbesondere der vierzehnjährige Col zu Beginn doch arg unbedarft, brav und unreif, doch im Verlauf der dramatischen Entwicklungen, und angeleitet durch eine faszinierende Frauenfigur, reift er und wird für den Leser fassbarer und glaubwürdiger. Mehr noch als diese beiden Identifikationsfiguren aber nimmt den Rezipienten die düster-elende Kulisse der unteren Decks in Beschlag. Hier, in den tristen, von Leid, Missbrauch und Gewalt heimgesuchten Decks, trieft das Buch vor herzergreifendem Elend und anrührender Not. Das wirkt beileibe nicht aufgesetzt, sondern realistisch und ergreifend, das macht die Wandlung Cols nachvollziehbar und verleiht der Freiheitskämpferin Riff Jeanne d’Arc-Qualitäten.
Eingebunden in die faszinierende Beschreibung des technischen Leviathans, der über die Länder der Welt zieht und auf der Suche nach altem Glanz und Gloria den Status Quo festzuzementieren sucht, wird das Leben der wenigen Privilegierten durch das Opfer der vielen Ausgebeuteten angeprangert. Das wirkt durchaus tiefsinnig, wirft Fragen auf, die man sonst kaum einmal in derartigen Büchern findet, geht eigene Wege und unterhält, nach einem etwas verhaltenen Beginn, kurzweilig und spannend.