Michael Marrak: Der Kanon mechanischer Seelen (Buch)

Michael Marrak
Der Kanon mechanischer Seelen
Titelbild und Innenillustration: Michael Marrak
Amrûn, 2017, Hardcover, 726 Seiten, 24,90 EUR, ISBN 978-3-95869-257-2 (auch als eBook erhältlich)

Rezension von Carsten Kuhr

Willkommen in einer fernen, sehr fernen Zukunft. Verabschieden Sie sich aber gleich einmal von der Vorstellung, die Menschheit hätte das All mittels gigantischer Raumschiffe erobert - dem ist nicht so. Nach wie vor dient den wenigen verbliebenen Menschen die Erde als Heimat. Hier leben die wenigen, die übrig geblieben sind. alterslos und unsterblich geschützt von einer gigantischen, vier Kilometer hohen Mauer.

Dass einige als Wandler gelernt haben, unbelebte Materie zu beseelen und sich so mit den Gebrauchsgegenständen aber auch dem Fluss auszutauschen, macht das Leben, die Forschung und die Suche nach Geheimnissen so interessant.

Vorhang auf für zwei unserer drei Protagonisten. Ninive lebt als Einzelgängerin weitab der Zivilisation im Hügelland. Zu ihren Freunden und Lebensgenossen zählen Luxa, eine belebte Lampe, Guss, ein ebenso belebter Ofen und die Standuhr Clogger. Ab und an gesellt sich mit Cutter ein mysteriöser Wanderer nebst seiner Sichel zu ihnen, ein Zeitgenosse, dem man nicht unter seine Kutte schauen sollte, so einem das Seelenheil und Leben lieb ist.

Ninive bereist, immer neugierig, ihre Welt, untersucht und forscht, belebt und fragt Gegenstände, nur um die Allermeisten danach wieder zu entseelen. Jetzt hat sie es sich in den Kopf gesetzt, zu erkunden, was sich nur auf der anderen Seite der großen Mauer befindet.

Bei ihrer Expedition stößt sie auf den aus der Mecha-Stadt entsandten Aris, der einer alten Spur folgend versuchen will, einen wohl verborgenen Durchgang durch die Mauer zu suchen und zu durchschreiten.

Der unübersehbaren Spur eines riesigen, beseelten Schrottdingens, das sich auch noch unsichtbar machen kann folgend, begegnen sich die Beiden und vereinen ihre Kräfte bei der Suche nach der anderen Seite…


Michael Marrak ist nun wahrlich kein Autor, der im Monatstakt Bücher vorlegt. Ganz im Gegenteil hält er es mit dem guten alten Sprichwort „Gut Ding will Weile haben“ - und dies eher extensiv. So sind seine Veröffentlichungen leider eher rar, bewiesen diese jedoch bislang, dass hier eine Stimme um Gehör bittet, die etwas Ungewöhnliches zu erzählen weiß.

Größer als sein Roman-Oeuvre sind die Veröffentlichungen von kürzeren Texten. In den letzten Jahren konnte der Fan Marrak’scher Erzählkunst schon erste Einblicke in sein großes Romanprojekt erhalten. 2011 etwa enthielt die Jubiläumsausgabe des „Readers Digest“-Jugendbuchs eine erste „Kanon“-Erzählung, die überarbeitet in „Nova“ 20 wieder aufgelegt wurde. Auch in den folgenden drei Ausgaben von „Nova“ erschienen jeweils weitere Erzählungen, die später Aufnahme im „Kanon“ fanden.

Was aber erwartet den Leser nun, wenn er das dicke Buch mit der interessanten Cover-Collage aufschlägt?

Nun, schlagen Sie sich einmal ganz schnell alles aus dem Kopf, was Sie von einem gängigen Science-Fiction-Roman erwarten. Also keine sich bekämpfenden Raumschiffe, keine Verfolgungsjagden mit Laserschuss-Gewitter, keine Roboter oder Aliens - Marraks Fundament findet sich weit eher bei Autoren wie Stanislaw Lem, Lewis Carroll, dem jungen Michael Moorcock vor seiner „Elric“-Ära und rudimentär Terry Pratchett.

Es sind die vielen skurrilen Gestalten, Figuren, belebte Gegenstände und unerklärliche Wesenheiten, die dem Roman ihr Gepräge geben. Es ist aber auch die Suche nach Erkenntnissen - sowohl für die Protagonisten als auch dem Leser -, es geht um die Rettung der Welt und schlicht um das Vergnügen, sich weitab der ausgetretenen Pfade beim Lesen faszinieren zu lassen. Unzählige Fragen werden aufgeworfen, so manche davon auch überraschend beantwortet, doch ist das eigentlich schon fast nebensächlich.

Wichtig ist die bizarre, dann wieder liebevoll vertraute Welt, die sich vor unseren neugierigen Augen öffnet.

Und genau dies, die kindliche, unvoreingenommene Neugier ist es auch, was die Figuren, allen voran Ninive, auszeichnet. Sie und ihre Begleiter und Helfer stoßen auf die große Frage, wo in dieser, ihrer Welt ihr Platz ist und wo der für die anderen alten, wie neuen, überholten wie innovativen Wesen.

Das offeriert so manche Fantasy-Elemente, die uns an gelungene Romane anderer Verfasser zurückdenken lassen, geht aber immer andere, neue Wege auf denen wir dem Autor gerne und fasziniert folgen.

Phantasie, markante, unvergessliche Figuren und eine Umgebung, die so divers wie abwechslungsreich gezeichnet wird, mischen sich zu einem der schillerndsten phantastischen Angebote der letzten Jahre - und das Beste: Der Text liest sich dabei auch noch richtig gut und wurde vom Autor kongenial illustriert!