Wonderland 1: Rückkehr ins Wunderland (Comic)
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- Kategorie: Rezensionen
- Veröffentlicht: Sonntag, 06. Juni 2010 23:21
Raven Gregory, Ralf Tedesco & Joe Tyler
Wonderland 1
Rückkehr ins Wunderland
(Return to Wonderland # 0-6, 2009)
Aus dem Amerikanischen von Sandra Kentopf
Titelbild und Zeichnungen von Rich Bonk & Daniel Leister
Farben von Thomas Mason & Nei Ruffino
Panini, 2010, Paperback mit Klappenbroschur, 192 Seiten, 19,95 EUR, ISBN 978-3-86607-986-1
Frank Drehmel
Lewis Carrolls klassisches Kinderbuch „Alice im Wunderland“ („Alice's Adventures in Wonderland“) aus dem Jahre 1865 wurde seit seinem Erscheinen so oft durch Film, Roman, Theaterstück oder auch Comic adaptiert beziehungsweise interpretiert – aktuell für das Kino durch Regisseur Tim Burton –, dass die Figuren mittlerweile zu Ikonen geworden sind und ein zumindest grober Überblick über die Handlung zum Bildungskanon gehört. Zeit, dass jemand unsere festen Vorstellungen über diese niedliche Story durcheinander wirbelt; Raven Gregory ist ein solcher Jemand, der aus einem zwar skurrilen, überdrehten, aber dennoch freundlich-beschwingten Märchen eine abgrundtief böse Geschichte macht, deren Gewaltexzesse das Herz jedes Voyeurs höherschlagen lassen.
Seit Alice dem weißen Kaninchen in den Bau und damit ins Wunderland gefolgt ist, sind viele Jahre ins Land gegangen. Heute ist das kleine Mädchen von damals eine erwachsene Frau mit einer Familie; einem Ehegatten, dessen sexuelle Bedürfnisse sie nicht mehr befriedigt, einer Tochter – Carroll „Calie“ Ann –, die mittlerweile selbst zu einer jungen, selbstbewussten Frau herangewachsen ist, sowie einem Sohn, Johnny, der zunehmend soziopathische Züge aufweist ... und Alice selbst hat eine schwere Borderline-Persönlichkeitsstörung aufgrund der Erlebnisse ihrer Kindheit.
Nach einem Selbstmordversuch besorgt ihr die Familie auf Rat des behandelnden Arztes aus therapeutischen Gründen ein weißes Kaninchen. Unerfreulicherweise erweist sich dieses Tier schnell als regelrecht unheimlich; und als es eines Tages im Keller des Hauses verschwindet, ist es diesmal Calie, die ihm folgt und die sich unversehens in einer bizarren Parallelwelt wiederfindet, in einer Welt in der sämtliche Kreaturen – „Tiere“ wie „Menschen“ – etwas zutiefst Monströses und Böses an sich haben.
Nach einer ersten Begegnung mit dem Zimmermann, der Tiere wie Menschen mit seinem Hammer erschlägt, um sie zu Fleischwaren zu verarbeiten, trifft sie anschließend den Hutmacher, der sich die Haut seiner Opfer übers Gesicht zieht, nachdem er sich an ihnen vergangen und sie dann getötet hat, wobei diese beiden Wahnsinnigen verglichen mit der sadistischen, durch das Blut ihrer Untertanen watenden Herzkönigin geradezu Chorknaben sind. Dabei ist die grausame Herrscherin nicht einmal das schlimmste Wesen des Wunderlandes, denn diese Ehre gebührt der Grinsekatze.
Und während sie um ihr Leben und – angesichts des Grauens – ihre geistige Gesundheit kämpft, beginnt in der realen Welt ihr Bruder Johnny seine mörderischen Neigungen auszuleben.
Mit Carrolls ursprünglichen Figuren haben Gregorys Charaktere höchstens noch den Namen und die Spezies gemein; ansonsten jedoch sind sie durch die Bank Psychopathen oder Soziopathen, denen es ausschließlich um das Ausleben ihrer eigenen Gewalttätigkeit und der Befriedigung ihrer Mord- beziehungsweise Fleischeslust geht. Dabei sind nicht nur die Wesen der Anderswelt durchdrungen vom Bösen, vom Abseitigen, sondern auch die Personen der realen Welt schwingen auf derselben Ebene mit. Bedauerlicherweise erweisen sich gerade die Psychogramme der Figuren in toto als so vordergründig, vorhersehbar und klischeebeladen, dass kaum Spannung oder Mitgefühl aufkommen wollen, sondern die gesamte Geschichte von plakativer Gewalt und der typisch amerikanischen Pennäler-Erotik – große, halbfertige Möpse – lebt beziehungsweise zu leben versucht.
Das Artwork selbst ist durchaus dem guten amerikanischen Mainstream zuzuordnen: klar, dynamisch und visuell abwechslungsreich, voller expliziter Gewaltdarstellungen und einer munteren, atmosphärisch stimmigen Koloration. Allerdings erschaffen Bonk, Leister, Mason und Ruffino unterm Strich keine Bilder – mit wenigen Ausnahmen –, die dem Leser wirklich in Erinnerung bleiben.
Fazit: „Alice im Wunderland“ für Slasher-Freunde und Fans des märchenhaften Ausweidens; eher vordergründig, denn originell oder tiefsinnig. Wer eine ambitioniertere und interessantere Comic-Adaption lesen möchte, der sollte sich lieber Chauvels/Colettes gleichnamigem Album (dt. bei Splitter) zuwenden.