Vernor Vinge: Das Ende des Regenbogens (Buch)

Vernor Vinge
Das Ende des Regenbogens
(Rainbows End, 2007)
Übersetzung: René Ulmer
Titelbild: Martin Frei
Cross Cult, 2016, Taschenbuch, 576 Seiten, 14,00 EUR, ISBN 978-3-95981-144-6 (auch als eBook erhältlich)

Rezension von Gunther Barnewald

Robert Gu ist ein weltberühmter Dichter und zudem ein echtes Charakterschwein, der es liebt, anderen weh zu tun und seine narzisstische Persönlichkeitsstörung auszuleben. Doch eines Tages erkrankt der Poet an Alzheimer und vergisst immer mehr um sich herum. Zu seiner Überraschung erwacht Gu aber wieder zu neuem Bewusstsein und findet sich in einem Krankenhaus wieder. Irgendwann nicht weit jenseits des Jahres 2017 ist es der Menschheit gelungen, durch medizinische Verfahren, sowohl die Alzheimer-Erkrankung als auch, für einige wenige, das körperliche Altern aufzuhalten oder gar rückgängig zu machen. Auch Gu gehört zu den Glücklichen, da nicht nur sein Geist, sondern auch seine körperliche Jugend wieder hergestellt wurde.

Seine Familie nimmt ihn mehr zähneknirschend wieder auf, hatte es sich der alte Mann doch mit allen verscherzt. Freunde hatte er da schon lange keine mehr. Und seine Frau, die in hohem Alter in einem Altersheim namens „Das Ende des Regenbogens“ lebt (und deren körperliche Erkrankungen leider noch nicht heilbar ist), lässt sich sogar über die gemeinsamen Kinder und die Enkelin für tot erklären, um nichts mehr mit ihm zu tun haben zu müssen, was von ihrem Sohn, seiner Frau und der Enkelin unterstützt wird.

Robert muss wieder völlig von vorne anfangen, denn seine Reichtümer sind durch ungünstige Finanzspekulationen weg, eine Rente steht nicht zur Verfügung. Mit anderen, ebenfalls geheilten Alten und einigen Jugendlichen besucht Robert bald eine Schule, um sich dem technischen Fortschritt anzupassen, denn die moderne Welt ist digitaler und umfassender als früher. Wer sich nicht anschließt und einen neuen Abschluss erwirbt, bleibt taub und blind für seine Mitmenschen und kann kein Geld mehr verdienen. Die menschliche Welt besteht fast nur noch aus computergesteuerten Maschinen und digitaler Kommunikation.

Schnell merkt Robert Gu, dass er viel von seiner schriftstellerischen Fähigkeit eingebüßt hat. Als er beginnt, sich wieder gemein zu seinen Mitmenschen zu verhalten, verwarnt ihn sein Sohn und droht ihm mit Rausschmiss, zumal man ihn sowieso nur noch bis zu seinem Schulabschluss widerwillig in San Diego in Kalifornien bei seiner Familie beherbergen will.

Währenddessen bemühen sich drei Geheimdienstler in das unterirdische Forschungszentrum in San Diego auf dem Gelände der dortigen Universität einzudringen, argwöhnen sie doch, dass jemand dort heimlich an einer futuristischen Technologie arbeitet, mit der man Menschen gegen deren Willen umfassend beeinflussen kann.

Um dies zu überprüfen, haben sich der deutsche Agent Günberk Braun und die japanische Geheimdienstmitarbeiterin Keiko Mitsuri mit dem undurchsichtigen indischen Strippenzieher Alfred Vaz verbündet, ohne zu ahnen, dass Letzterer ein falsches Spiel betreibt. Zusammen mit einem großen Unbekannten, der in der virtuellen Figur eines sprechenden Cartoon-Kaninchens auftritt, haben die vier zum Angriff auf die geheime Forschungsstätte geblasen.

Zur Ablenkung werden auch Robert Gu, einige seiner alten Bekannten, seine Familie und sein junger Mitschüler Juan Orozco, mit dem er sich über ein Arbeitsbündnis doch langsam anfreundet, in diesen Angriff verwickelt, zumal die Familie Gu, also Roberts Sohn und seine Schwiegertochter, für die Homeland Security arbeiten.

Und während ein gigantisches Ablenkungsmanöver fast die Zerstörung eines Universitätsgebäudes provoziert, versucht der Übeltäter seine Erkenntnisse in Sicherheit zu bringen, um seine undurchsichtigen Pläne weiterhin verfolgen zu können. Bald ist nicht nur Roberts Leben gefährdet, sondern auch das aller anderen, die ihm je etwas bedeutet haben...


Auch wenn der Plot etwas an den Haaren herbeigezogen wirkt (jeder Verschwörungstheoretiker reibt sich hier die Hände, wenn er von einer Technologie liest, die Menschen gegen ihren Willen beherrschbar macht, als wäre der Homo sapiens eine Maschine oder ein Computerprogramm, die man einfach umprogrammieren könnte), so gelingt es Vinge jedoch, eine äußerst spannende Geschichte zusammenzubrauen, die den Leser über 500 Seiten lang in seinen Bann schlägt.

Die eigentliche Stärke des Buchs liegt aber in den unterschiedlichen, äußerst glaubwürdig und realistisch beschriebenen Charakteren. Robert Gu, Juan Orozco, Miri Gu, Thomas Parker und auch einige andere wirken lebensecht und überzeugen als eigenständige Persönlichkeiten.

Weiteres Plus der Geschichte ist die überbordende virtuelle Welt der nahen Zukunft, die aus Menschen, die sich dem Fortschritt verweigern, arme Würstchen macht. Bücher werden brutal geschreddert, um sie digital einlesen zu können, keiner lebt mehr allein in der analogen Welt, die Kommunikation ohne Technik ist nahezu ausgestorben. Auf allen möglichen Ebenen werden Nachrichten ausgetauscht, wer nicht mitmacht ist taub, blind und gesellschaftlich so gut wie tot.

Robert Gu macht die erschreckende Erfahrung, dass seine einstigen Leistungen nichts mehr wert sind. Kaum jemand kennt ihn noch, Bücherlesen ist out und als Juan erstmals einen kurzen, von Robert Gu vorgetragenen Text hört, ist er zunächst verwirrt, bevor sein „Kino im Kopf“ endlich anspringt, eine in dieser Zukunft wohl völlig vergessene Fähigkeit des Menschen.

Stattdessen dominiert die Computertechnik alles. Alle Bewegungen werden errechnet, Autos bewegen sich nach statistischen Gesetzmäßigkeiten und errechneten Wahrscheinlichkeiten ohne Fahrer durch die Landschaft. Robert muss sich von einem dieser vollautomatischen Autos lange fahren lassen, um etwas zu erreichen, was wie unberührte Natur aussieht. Hier ist er alleine, da Natur wohl keinen mehr interessiert, jeder nur noch ständig und fast ununterbrochen mit anderen chattet.

Und während der Mensch immer mehr zur berechenbaren Eins oder Null (meistens Letzteres!) wird, greifen Terroristen zu ungeahnten Waffen, die wiederum von den wackeren Paranoikern der Geheimdienste entschärft werden müssen, wenn sie nicht selbst die Attentäter sind!

Vernor Vinge erhielt laut Verlagsauskunft für dieses Buch sowohl den Hugo Award als auch den Locus Award und traf mit dieser Geschichte 2007 wohl einen Nerv der Zeit. Auch wenn die Erzählung zu nah am Heute zu sein scheint (und die Fortschritte doch nicht so schnell vonstatten gehen, wie hier angedacht) und der Plot zu paranoid und unrealistisch erscheint (umfassende Manipulation menschlicher Meinungen und Verhaltensweisen allein durch biologisch-technologische Spielereien), so macht das Lesen dieses Romans doch großen Spaß und regt zu einem gewissen Nachdenken darüber an wie wir unsere Zukunft gestalten wollen.

Vinges größtes Verdienst ist es dabei, seiner Zukunft keine eindeutig polarisierenden Wertung aufzudrücken. Weder ist alles Beschriebene zu verteufeln, noch kann man hier von „rosigen Aussichten“ sprechen. Der Autor beschreibt klug immer die zwei Seiten von allzu wackerem technologischem Fortschritt. Licht und Schatten sind so gut verteilt, dass man die Geschichte bis zum Ende lesen kann, ohne sich über das eine oder andere Klischee oder den eine oder anderen unrealistischen Plot aufregen zu müssen.

Ein empfehlenswertes Buch, da es den Leser einlädt, selbst zu denken und sich eine unabhängige Meinung zu bilden von dem, was kommen könnte, sollte oder nicht sollte. Dazu spannend erzählt, gut übersetzt, flüssig geschrieben und atmosphärisch dicht beschrieben. Was will man mehr!