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Tanja Bern: "Holmes und der Wiedergänger"

Das News-Aufkommen aus dem Bereich der Phantastik (egal ob in Sachen Literatur, Film & Serien, Comic etc.) wird in nächster Zeit vermutlich rückläufig sein. Rezensionen werden wir natürlich weiterhin online stellen. Bis auf Weiteres möchten wir unser Angebot aber um Kurzgeschichten erweitern. Wir bedanken uns bei den Autorinnen und Autoren, die uns hierbei unterstützen.

Heute: „Holmes und der Wiedergänger“ von Tanja Bern


HOLMES UND DER WIEDERGÄNGER

von Tanja Bern

 

Sherlock Holmes schaute gedankenverloren auf das Wechselspiel der Farben in seinem Glas. Die Flüssigkeit schimmerte im Kerzenschein in verschiedenen Bernsteintönen.
Dr. John H. Watson stand vor ihm und runzelte die Stirn. Er schnaubte und sah sich pikiert um. Holmes folgte belustigt seinem Blick. Die Violine lag auf dem dunklen Eichentisch – eine Ruheinsel in dem Chaos, welches in dem Zimmer herrschte. Kleidungsstücke und zerknüllte Papierkugeln lagen verstreut auf dem Boden.
„Wann gedenken Sie das hier aufräumen zu lassen?“
„Gar nicht“, antwortete Holmes.
„Gar nicht?“
„Ich habe Mrs Hudson gekündigt“, erklärte Holmes unbekümmert.
„Ah ja ... und warum dieses Mal?“
„Sie wollte meine Violine reinigen! Mit einem Putzmittel!“
Watson schaute auf besagtes Instrument. Holmes kratzte sich am Kopf und zerwühlte sich das dunkle Haar. „Ich gebe zu, die Honigflecken werden dem Holz nicht guttun“, räumte er ein und sah, dass sich Watson zusammenreißen musste, um nicht aufzulachen. „Also habe ich Sie doch wieder aus der Reserve gelockt“, bemerkte Holmes. „Sie müssen zugeben, dass ich das von Zeit zu Zeit schaffe.“ Er schüttete den Whisky in einem Zug hinunter.
„Von Zeit zu Zeit. Heute ist es Alkohol, ja? Was ist mit den Drogen passiert?“, fragte Watson schnippisch.
„Sind mir ausgegangen.“
Dr. Watson brummte nur etwas zur Antwort, schob den Kleiderhaufen von dem Ohrensessel und setzte sich mit einem Seufzen.
Holmes wandte sich dem Fenster zu, wo Schneegraupel gegen die Scheibe wehte. Die Läden klapperten gegen die Mauern des alten Hauses. Holmes hasste Kälte, deshalb flackerte trotz all dem Chaos ein Feuer im Kamin. Er schob die bordeauxfarbenen Vorhänge beiseite, um in die Nacht hinauszuschauen. Der Sturm heulte durch die Gassen Londons, und Holmes runzelte die Stirn, als eine Kutsche an dem Haus vorbeifuhr und im nassen Untergrund bedrohlich über die Pflastersteine schlingerte. „Ihnen wird wohl nichts anderes übrig bleiben, als hier zu übernachten“, sagte er und warf Watson einen Blick zu.
Der Arzt begegnete diesem argwöhnisch, antwortete jedoch nicht.
„Es ist ein furchtbares Wetter!“
„Ja, aber ob es so furchtbar ist …“
Holmes wandte sich wieder dem Fenster zu. Ein Mann, eingehüllt in einen Umhang rannte über die Straße. „Wir bekommen Besuch.“ „Besuch? Wer …?“
Es klopfte energisch an der Außentür. „Mr Holmes?! ... Mr Holmes! Bitte öffnen Sie!“
Watson zog überrascht die Augenbrauen hoch. „Sein Anliegen scheint sehr dringend zu sein.“
Holmes zuckte mit den Schultern und begab sich zur Tür. Kalter Wind wehte ihm entgegen und für einen Augenblick traf der Graupel schmerzhaft auf seine Haut.
„So kommen Sie schon herein!“, fuhr er den Fremden an, packte ihn am Ärmel und zog ihn unsanft in den Flur.
„Ich danke Ihnen, Sir!“, entgegnete der Mann und streifte sich die durchnässte Kapuze ab.
Watson stand im Türrahmen und schien den Ankömmling genau zu betrachten.
„Was verschafft mir die Ehre?“, fragte Holmes.
„Sir, ich bin hier, um Sie um Hilfe zu ersuchen.“
„Wobei? Ich habe gerade Urlaub.“
Watson näherte sich und stieß seinem Freund in die Seite. „Haben Sie nicht!“
„Habe ich nicht? Nun gut, Dr. Watson sagt, ich habe keinen Urlaub. Worum geht es?“
„Sir, ich komme aus Hampshire, aus dem Dorf Lymington. Dort … dort … also in dem Wald, da ist … ich habe ihn selbst gesehen! Da ist …“ Der Fremde sah ihn angstvoll an, ihm brach die Stimme und er hustete.
Holmes zog ihn in das Studierzimmer und schenkte ihm einen Whisky ein. Der Mann sah verblüfft auf die Unordnung in dem Raum, ergriff trotzdem das dargebotene Glas, ohne zu zögern, und kippte den Inhalt hinunter.
„Was ist in Ihrem Dorf?“ Holmes blickte ihn erwartungsvoll an.
„Ich heiße Jeremy Smith, Sir, und in unserem Dorf geht ein Wiedergänger um. Sie müssen uns helfen!“

*

Die Kutsche ratterte laut über das Pflaster. Missmutig sah Holmes auf die nebligen Straßen und zog den Wintermantel enger um sich. Watson unterhielt sich angeregt mit Mr Smith.
Ein Wiedergänger …, dachte Holmes. Das Bild eines blutrünstigen Toten kam ihm vor Augen und er lachte heiser, sodass von der Kälte weiße Atemwölkchen aus seinem Mund drangen. Dann horchte er auf.
„… das ganze Blut war weg. Sie war … nun ja, blutleer“, hörte er Smith erzählen.
„Es ist ein Vampir?“, mischte sich Holmes ein.
„Ja, Sir, das glauben wir im Dorf.“
„Ich hoffe, er kann sich nicht in eine Fledermaus verwandeln, sonst könnte es schwer sein, ihn zu fassen.“
„Erkennen Sie mal den Ernst der Lage, Holmes!“, zischte Watson.
„Aber das tue ich doch, mein Lieber.“
Watson sah ihn mit hochgezogener Augenbraue an.

*

Nach kurzer Zeit lag London hinter ihnen und sie kamen an nebligen Hügeln und Feldern vorbei, bis sie nach einigen Stunden das Gebiet um Hampshire erreichten. Von dort fuhren sie in Richtung Lymington. Sie zogen an dicht gewachsene Tannen vorüber. Raben saßen in den Zweigen und krächzten wie zur Warnung.
„Sehr idyllisch“, bemerkte Holmes spöttisch und spähte in das Zwielicht des Waldes. „Wo ist der Wiedergänger denn das erste Mal aufgetaucht?“
Jeremy Smith blickte Holmes mit ernstem Gesichtsausdruck an. „Hier in den Wäldern, Sir.“ „Oh“, brachte dieser nur heraus und betrachtete die Umgebung noch genauer.
Wenig später blieb die Kutsche vor einer kleinen Pension in Lymington stehen. Holmes und Watson trugen ihre Koffer in den kleinen Eingangsbereich. Eine beleibte Frau begrüßte sie überschwänglich und zeigte ihnen ihre Zimmer.
„Bitte, bringen Sie so schnell es geht einige Zeugen her, sodass ich sie befragen kann“, trug Holmes Mr Smith auf.
„Ja, Sir“, antwortete dieser und verließ den Raum, in dem man den Detektiv einquartiert hatte.
Sorgsam packte Holmes seine Gerätschaften aus dem Koffer und untersuchte sie auf Schäden. Ein empfindliches Mikroskop war nicht für holperige Kutschfahrten geeignet und er nahm erleichtert zur Kenntnis, dass alles wohlbehalten geblieben war. Es klopfte an der Tür und Holmes ließ rasch die Whiskyflasche wieder in der Tasche verschwinden. „Was ist denn?“, rief er gereizt.
Watson öffnete die Zimmertür. „Ein schuldbewusster Blick? Was haben Sie in Ihrem Koffer verschwinden lassen?“
„Pff! Nichts! Hat Smith die Zeugen geholt?“
„Noch nicht, aber die Hauswirtin fragt, ob wir zu Mittag essen wollen.“
Holmes nickte und folgte Watson die Treppe hinunter. Eine zartgliedrige Frau spähte vorsichtig aus einer Ecke zu ihnen empor. Holmes sah etwas in ihrem Blick und steuerte auf sie zu. Ihre weiße Haube war verrutscht und einzelne Locken kringelten sich um ihr junges Gesicht. Ihre Nase war spitz, wie die einer Maus, doch sie hatte Augen, die wie Saphire leuchteten.
„Sie haben etwas gesehen, Mädchen, oder?“, fragte Holmes geradeheraus.
Sie nickte, warf besorgte Blicke in den Küchenraum. „Ich habe ihn gesehen, Sir“, flüsterte sie.
„Wie sah er aus?“, wollte nun Watson wissen, der sich ihnen genähert hatte.
Wieder blickte das Mädchen umher. „Seine Haut beginnt zu verwesen“, wisperte sie, „und seine Augen sind rot. Um seinen Mund … der Mund ist … blutverschmiert.“
„Betty?!“ Der Ruf der Gastgeberin hallte durch den Flur.
„Ich muss gehen! Sagen Sie nichts meiner Mutter!“
Watson runzelte verwirrt die Stirn.
Holmes hingegen grinste. „Mit wem mag sie sich im Wald getroffen haben?“
„Wie bitte?“ Watson verstand nicht.
„Der Vampir soll sich im Wald herumtreiben, wo sie wohl nicht hin darf. Ihre Nervosität hatte nichts mit dem Wiedergänger zu tun, sie fürchtet ihre Mutter. Also hat sie sich mit jemandem im Wald getroffen.“ „Sehr aufschlussreich. Und das wissen Sie innerhalb weniger Sekunden?“
„Tja.“ Holmes klopfte ihm auf die Schulter. „Ich bin der Detektiv, Sie nur der Arzt.“
„Nur der Arzt?“
Holmes reagierte nicht auf den Protest seines Freundes, sondern folgte dem Mädchen in die Küche. Ihre Mutter kam rasch herbei. „Nicht doch, Sir! Bitte nehmen Sie die nächste Tür. Dort ist die Wirtschaft. Mein Mann wird Ihnen gleich auftragen lassen.“
Holmes hätte gerne noch mehr von dem Mädchen erfahren – später vielleicht. Er befolgte die Anweisung und ging mit Watson in die Gaststätte. Jeremy Smith erwartete sie bereits. Bei ihm waren fünf Zeugen.

*

Fast drei Stunden hörte sich Holmes die Berichte der Männer und Frauen an. Alle sagten das Gleiche. Ein bleicher Mann mit halb verwester Haut treibe nachts sein Unwesen im Wald und auch im Dorf. Blutrünstig sauge er seinen Opfern das Blut aus und ließe sie zerfleischt zurück. Holmes schwirrte der Kopf, und er war froh, dass sie ihm nicht noch eine Verwandlung in eine Fledermaus auftischen wollten. Er sah, dass sich Watson unwohl fühlte. Selbst er befürchtete wohl aufgrund der Gespräche Alpträume in der Nacht. Die örtliche Polizei hielt sich von dem Wald mittlerweile fern, nachdem einer der Uniformierten angegriffen worden und schwer verletzt ins Dorf getaumelt war.
Dass hier ein Mörder umging, dem konnte Holmes nicht widersprechen. Aber ein Wiedergänger?
„Gibt es denn ein Grab, das geöffnet worden ist?“, fragte er interessiert. Die Gemeinschaft schüttelte den Kopf. „Nicht auf dem Friedhof hier im Ort, Sir“, sagte Smith.
Holmes musterte ihn. „Nicht auf dem Friedhof? Wo dann?“
Jeremy Smith holte geräuschvoll Luft. „Mrs Helliway war das erste Opfer. Sie … sie lag zerfleischt an einer oberflächlichen Erdgrube im Wald und hatte noch Blumen in der Hand …“
„Als ob sie Blumen zu einem Grab bringen wollte?“
„Ja, Sir“, antwortete Smith leise.

*

Holmes saß im Bett und dachte angestrengt nach, der Whisky brannte heiß in seiner Kehle. Es gab also ein Grab, mehrere Opfer und viele Zeugen, denn im Laufe des Abends hatten sich immer mehr zu ihnen gesellt, die den Vampir gesehen haben wollten.
Verdammt, er glaubte nicht an Wiedergänger! Er musste diesen Meuchler selber sehen. Abrupt stand er auf und stellte die Flasche auf den Nachttisch. Dunkle Sterne tanzten in dem Kerzenlicht vor seinen Augen. Er blinzelte, warf der halb leeren Flasche einen bösen Blick zu, zog sich an und verließ sein Zimmer. Ohne Rücksicht klopfte er an Watsons Tür und öffnete sie, ohne eine Antwort abzuwarten. Der Arzt fuhr erschrocken auf. Holmes starrte auf die Nachtmütze, die sich sein Freund rasch vom Kopf riss. „In Sorge, dass die Frisur morgen früh nicht sitzt?“, fragte er spöttisch.
Watson schnaubte. „Ich sorge mich eher um Läuse, die ohne Mütze in mein Haar krabbeln könnten!“ „Ich gehe in den Wald. Kommen Sie mit?“ „In den Wald?“, krächzte Watson verblüfft. „Jetzt?“
„Nun, er ist ein Vampir, oder?“

*

Der Vollmond warf ein gespenstisches Licht auf das Unterholz und die Nacht wirkte bedrohlich. Holmes konnte es dennoch nicht lassen, seinen Freund zu ärgern. „Eine sehr gelungene Nacht für einen Werwolf, finden Sie nicht?“
„Seien Sie still! Mir reicht der Vampir völlig!“, zischte Watson und Holmes sah, dass er den Kragen seiner Twistjacke eng um den Hals schlang.
„Warum können wir nicht wenigstens eine Fackel mitnehmen?“
„Damit wir wie ein Leuchtfeuer für jedermann sichtbar sind? Der Mond ist hell genug, mein lieber Watson.“
Ein Rascheln ertönte und etwas sprang aus dem Gebüsch vor ihnen. Die Männer fuhren erschrocken zusammen. Ein Kaninchen flüchtete über den Waldboden davon. Watson griff sich an die Herzgegend. „Du lieber Himmel!“, flüsterte er.
Holmes setzte an, etwas zu sagen, als ein Schrei ertönte. Die beiden Männer sahen sich an. „Das kam vom Dorf!“, flüsterte Watson tonlos.
Holmes rannte, ohne auf ihn zu warten, zurück zu den Laternen am Dorfrand und starrte fassungslos auf das Schauspiel, das sich vor seinen Augen abspielte. Der Mann, der das Feuer der Straßenlaternen löschen wollte, lag am Boden, Holmes sah den langen Stab, mit dem er sonst seine Arbeit verrichtete. Seine Beine zuckten noch, doch sein Schrei war verstummt. Über ihn beugte sich ein bleiches Wesen. Es riss seinem Opfer wie ein Hund die Kehle auf.
„Hey!“, brüllte Holmes, hob einen dicken Ast vom Waldboden auf und spurtete los. Das Geschöpf hob das blutverschmierte Gesicht. Holmes fuhr erschrocken zurück. Die Zeugen hatten Recht! Seine Haut zeigte Verwesungsspuren. Der Wiedergänger stürzte auf ihn zu, und Holmes schlug ihm den Ast mit aller Kraft auf den Kopf. Mit einem Ächzen wich sein Angreifer zurück. „Holen Sie jemanden zu Hilfe, Watson!“, schrie er seinem Freund zu, doch der reagierte völlig anders. Holmes sah im Augenwinkel eine Pistole. Dann knallte ein Schuss durch die Nacht und der Wiedergänger heulte auf. Taumelnd lief er zum Waldrand und verschwand in der Dunkelheit.
Holmes’ Herz klopfte heftig. Ihm wurde vor Schreck übel und schwarze Punkte tanzten vor seinen Augen.
„… alles … Ordnung?“
Holmes sah seinen Freund an. Er konnte dessen Worte nicht richtig verstehen, weil der Pistolenschuss noch immer in seinem Gehör hallte und ein Rauschen verursachte. Watson drehte ihn zu sich herum. „Holmes?!“
Der Detektiv schüttelte um Klarheit bemüht den Kopf. Sein Blick wanderte zu dem Opfer. „Verdammt, John, es ist Jeremy Smith!“
Watson näherte sich kreidebleich, Holmes sah es im Licht der noch nicht gelöschten Straßenlaterne. Der Arzt antwortete nicht, sondern steckte seine Waffe zurück in sein Jackett.
„Seit wann haben Sie eine Pistole?“, wollte Holmes wissen, starrte aber auf den aufgerissenen Hals von Smith.
„Wenn ich mit Ihnen auf die Jagd nach einem Wiedergänger gehe, ist das eine brauchbare Waffe, finden Sie nicht? Viel besser als ein Knüppel.“
„Wohl wahr.“
Holmes kniete sich vor das Opfer und betrachtete seine Wunden. Stimmen näherten sich ... der Schuss hatte anscheinend das halbe Dorf auf die Beine gebracht.
„Die Wunden sehen aus, als wären sie von einem Tier. Hätte ich ihn nicht selbst gesehen …“, murmelte Holmes und richtete sich auf, als ein Mädchen kreischend vor dem Anblick der Leiche zurückwich.
„Geht es Ihnen gut?“, fragte der Wirt ihrer Pension. „Ja, ja.“ Holmes winkte ab. Er war schon tief in Gedanken versunken und versuchte für dieses Wesen eine vernünftige Erklärung zu finden. Die Gespräche um ihn wurden leiser, als er innerlich eine Theorie nach der anderen durchging. Watson packte ihn schließlich am Ärmel und zog ihn mit sich, überließ Smiths Leiche den Dorfbewohnern.

*

Wenig später waren sie in ihrer Herberge und Holmes goss ihnen Whisky ein. Bedauernd sah er auf den kümmerlichen Rest, der noch übrig war.
„Sie können nicht abstreiten, dass dieses Geschöpf sehr mysteriös ist“, sagte Watson mit gesenkter Stimme.
Holmes atmete tief durch. „Ich glaube nicht an Märchen. Hier muss es eine logische Erklärung geben“, beharrte er.
Watson schüttete die honigfarbene Flüssigkeit in einem Zug hinunter und stand auf. „Dann wünsche ich Ihnen viel Spaß bei der Auflösung.“
„Was soll das heißen? Sie werden doch deswegen nicht zurück nach London fahren?“
„Nein, aber ich werde mich ins Bett begeben.“
„Sie können jetzt schlafen?“
„Es mag sein, dass ich schlechter träume als üblich.“
Holmes fuhr sich mit beiden Händen über das Gesicht. „Dann gute Nacht, John.“
„Ihnen auch.“
Die Tür fiel leise ins Schloss. Seufzend lehnte sich Holmes zurück und schloss die Augen.
Der Alkohol zeigte seine Wirkung. Wirre Bilder zogen an seinem inneren Auge vorbei. Abrupt fuhr er auf. Er hatte vor Kurzem einen Bericht gelesen! Wieso war er nicht gleich darauf gekommen? Ein italienischer Medizinstudent hatte vor langer Zeit eine seltsame Theorie aufgestellt und Holmes war sich fast sicher, dass es da ebenso um Wiedergänger und ihren Blutdurst ging. Er musste am nächsten Tag nachfragen, ob es hier eine Bibliothek oder Ähnliches gab. Vielleicht würde er den Artikel noch einmal aufspüren können.

*

Holmes’ Magen knurrte, doch er beachtete ihn nicht. Er hatte noch nicht gefrühstückt, das erschien ihm unwichtig. Zu sehr war er in die Druckschriften vertieft, die in dem Archiv einer kleinen holzgetäfelten Bibliothek im Dorf untergebracht waren. Welche Zeitung war es? Die London Post? Oder die … nein! Es musste die London Post sein. Er erinnerte sich an die Titelseite, wo das Emblem der Zeitung deutlich zu sehen war. Holmes  durchwühlte unzählige Exemplare der letzten Zeit, bis Watson ihn zumindest zu einem Brot und schwarzem Tee nötigte.
„Was gedenken Sie hier zu finden?“
„Einen Artikel …“
„Oh? Darauf wäre ich nicht gekommen. Es gibt ja sonst so Vieles in einer Zeitung, nach dem man suchen könnte.“
„Bilder?“, erwiderte Holmes amüsiert.
Watson lachte leise und schüttelte den Kopf. „Was suchen Sie?“
Sein Freund griff nach der nächsten Zeitung und stockte. Er kannte die Titelseite! „Das hier!“ Holmes suchte die passende Seite und reichte sie Watson, der den Bericht überflog. „Holmes, das ist Unsinn. Selbst die London Post macht sich darüber lustig. Es ist ein Märchen.“
„Pff! Für mich ist das weniger Märchen, als ein Wiedergänger!“
Watson betrachtete den Detektiv nachdenklich. „Hm, man hat bewiesen, dass Krankheiten von so etwas kommen, aber dies hier …“
„Ich werde es herausfinden! Und ich beginne mit diesem ominösen Grab im Wald.“
„Dann werden wir zu den Helliways gehen?“
„Jawohl, Watson, das werden wir.“

*

Das Haus am Waldrand war ärmlich im Vergleich zu den Gebäuden im Dorf. Ein Mann in den mittleren Jahren jätete Unkraut und ein vielleicht zwölfjähriger Junge schnitzte missmutig an einem Stück Holz. „Mr Helliway?“, rief Holmes ihm zu und der Mann hob den Kopf.
„Wer will das wissen?“, entgegnete er mürrisch.
Holmes schritt in den Garten und ignorierte die Unfreundlichkeit. Watson blieb nah bei ihm, sah argwöhnisch zwischen die Bäume. „Sherlock Holmes, Sir.“ Er reichte ihm die Hand und der Mann ergriff sie.
„Ich bin Mr Helliway. Sie sind der Detektiv, den Smith geholt hat?“
„Ja. Haben Sie von dessen Tod schon erfahren?“
Mr Helliway wurde kreidebleich. „War es …“
Holmes überging die Frage. Watson hingegen nickte dem Mann zu.
„Mr Helliway. Was hat Ihre Frau an der Erdgrube im Wald gewollt?“
Holmes sah an seinem Gesichtsausdruck, wie sich der Mann innerlich wand. Seine Wangen röteten sich und er senkte schuldbewusst den Kopf.
„Sie … meine Frau ist …“
„Bitte die Wahrheit, Sir! Wen haben Sie dort begraben?“
Mr Helliway rang einen Moment mit sich, dann sagte er: „Meinen ältesten Sohn.“
„Warum wurde er im Wald vergraben?“, erkundigte sich Watson erstaunt.
Mr Helliway atmete tief durch. „Er … er war …“ Er hob den Blick. „Henry war … ist ein Dämonenkind.“
„Unsinn!“, ereiferte sich Holmes. „Was hat er sich zuschulden kommen lassen?“
Mr Helliway fuhr zusammen. „Sir, seit seiner Geburt vertrug er keine Sonne. Seine Haut verbrannte, sobald er ins Tageslicht ging.“
„Er vertrug kein Sonnenlicht?“, wiederholte Holmes verwundert.
Watson ergriff ihn am Arm und zog ihn ein Stück zur Seite. „Ich habe das schon einmal gehört, Holmes. In einer medizinischen Fachzeitschrift war von einer Lichtkrankheit die Rede, wo die Strahlen der Sonne Verbrennungen und Entzündungen hervorrufen.“
„Das würde erklären, warum er wie halb verwest aussieht.“ Holmes fixierte Mr Helliway mit scharfem Blick. „Was, um Himmels willen, ist mit Ihrem Sohn passiert?“
„Henry war immer ein friedlicher Bursche, obwohl wir ihn verborgen haben. Er … er lebt in einer alten Mühle, die uns gehört. Eines Tages kam meine Frau weinend zurück und sagte mir, Henry wäre tot. Und als ich kam, um nachzuschauen, war er das auch! Da niemand von ihm wusste und wir dachten, er wäre ein … ein Dämonenkind, beerdigten wir ihn heimlich im Wald. Als meine Frau am nächsten Abend Blumen auf sein Grab bringen wollte …“ Ihm brach die Stimme. „Da kam Henry aus dem Dunkel und tötete sie“, endete Holmes.
Mr Helliway nickte betroffen.
„Zeigen Sie mir die Mühle.“
„Nein! Er ist jetzt dort! Es ist Tag.“
Holmes wollte dieser Sache nachgehen, war allerdings nicht erpicht auf eine weitere Begegnung mit Henry.
„Gibt es Tiere in der Mühle?“
„Tiere, Sir?“
„Spinnen, Fledermäuse …“
„Ich würde sagen beides“, antwortete der Mann.
Holmes begegnete Watsons Blick. Die beiden verstanden sofort. Dies untermauerte Holmes’ Theorie.
„Was sagte der Bericht nochmal?“
Holmes seufzte. „Ab diesem Stadium nicht mehr heilbar.“
„Führt es zum Tod?“
„Das stand nicht in der Zeitung.“
„Also …“
„Ja …“
Sie verabschiedeten sich von Mr Helliway und gingen langsam durch das Dorf.
„Ich werde das nicht tun, Holmes!“
„Vielleicht ist er ja schon tot. Schließlich haben Sie ihn angeschossen.“
„Und wenn nicht?“
„Tja, dann haben wir ein Problem. Wir müssen nachsehen, Watson.“
„Nicht allein. Wir müssen die Polizei informieren!“
„Die weigert sich sicher, in den Wald zu gehen.“
„Ach, das gibt es doch nicht! Sind das denn alles Feiglinge?“
Holmes grinste höhnisch. „Fragen wir sie.“

*

„Nein, auf keinen Fall, Sir! Ich kann die Männer nicht zwingen!“
Holmes strich sich müde und genervt über das Gesicht. Wirklich Feiglinge, dachte er.
Seit über einer Stunde waren sie nun auf dem kleinen Polizeirevier und versuchten die wenigen Polizisten zu überreden, mit auf die Jagd nach dem Wiedergänger zu gehen. Die Männer hatten Angst und weigerten sich, seitdem ihr Kollege so schwer verletzt worden war.
„Was gedenken Sie stattdessen zu tun, Sir?“, fragte Watson ungehalten.
„Wir … haben das Militär verständigt.“
„Und die kommen wegen eines Vampirs?“, fragte Holmes ungläubig.
„Nein“, antwortete der Polizeichef und senkte mutlos den Kopf. „Deshalb haben wir Sie geholt.“
„Verdammt, ich bin Detektiv!“
„Man hört … nun … aber auch andere Sachen.“
„Andere Sachen, ah ja. Kommen Sie denn selbst mit, oder sind auch Sie zu feige?“
„Ich habe Frau und Kinder, Mr Holmes.“
„Ich verstehe!“ Holmes wandte sich zornig ab und schritt nach draußen. Überrascht hielt er dort inne. „Betty?“
Die junge Frau stand mit einem Jagdgewehr vor ihnen. Ihr Rock wehte im Wind und einzelne Locken hatten sich aus ihrer hochgesteckten Frisur gelöst. Entschlossen sah sie die beiden an. „Ich begleite Sie. Mein Vater hat mir beigebracht, wie ich damit umzugehen habe.“
„Aber …“ Watson war sprachlos.
„Mir scheint, wir haben hier zumindest eine Mutige in Lymington.“
„Die haben Sie, Sir“, entgegnete Betty.
„Betty, darf ich Sie fragen, wieso …“
„Ich wollte Jeremy Smith heiraten.“ Tränen verschleierten ihren Blick und sie drehte sich um. „Wo ist dieser Mörder?“
„Ich denke im Wald, Miss“, erwiderte Watson.
„Dann gehen wir.“

*

Die verlassene Mühle stand auf einer Lichtung an einem schmalen Flusslauf. Einige Bäume trugen noch bunt gefärbte Blätter und vereinzelte Sonnenstrahlen verirrten sich in den Wald.
Holmes war auf das Äußerste angespannt. Watson ging mit seiner Pistole vor ihm, Betty befand sich hinter ihm. Er hoffte inständig, dass sie ihm nicht in den Hintern schoss.
„Wo mag er sein? Das Gebäude ist größer, als ich dachte“, flüsterte der Detektiv.
„Finden wir es heraus“, zischte Betty und übernahm die Führung.
Ein totes Reh lag am Eingang, mit in die Ferne gerichteten gebrochenem Blick. Holmes sah sich aufmerksam um. Überall verstreut lagen Tierkadaver und es stank nach Verwesung. Er sah, wie Watson die Nase rümpfte, das Mädchen schien es gar nicht zu bemerken. Sie gingen in die Ruine und kühle Finsternis umfing sie. Nichts war zu hören, alles blieb still. Nur die Angst kroch wie eine eiskalte Hand Holmes’ Nacken hinauf.
Seine Augen gewöhnten sich an die Dunkelheit und er sah Blutspuren am Boden. Mit einer Geste machte er seine Begleiter darauf aufmerksam. Betty schnaufte vor Aufregung und Watsons Hand zitterte so stark, dass die Pistole leise klickte.
Ohne Vorwarnung kam Henry aus einer Ecke und sprang Watson an. Dieser schrie erstickt auf und hielt das Gesicht des Wiedergängers mit beiden Händen von sich fern. Holmes stand eine Sekunde wie gelähmt da. Betty kreischte und ihr fiel die Waffe aus den Händen. „Holmes!“, brüllte Watson.
Holmes packte Henry und zerrte ihn von seinem Freund herunter. Der Vampir gab einen japsenden Laut von sich und schnappte nach Holmes’ Hals. Der Detektiv wich entsetzt zurück. Überall an Henry schien Blut zu sein. Der Mörder riss ihn zu Boden und Holmes schlug ihm seine Faust ins Gesicht. Doch es schien den wahnsinnigen Mann nicht zu kümmern.
Da knallte ein Schuss.
Henry sackte gegen Holmes, der ihn angeekelt von sich stieß. Betty stand mit hoch erhobenem Gewehr und weit aufgerissenen Augen an der Wand. Holmes zwang sich zur Ruhe, warf einen Blick auf Henry, dessen Augen blicklos an die Decke starrten. Mit zitternden Fingern holte Holmes ein Glasfläschchen aus seinem Jackett, um etwas Blut von ihm aufzufangen.
„Was tut er denn da?“, rief Betty mittlerweile hysterisch. Keiner antwortete ihr. Stattdessen rappelten sich die beiden Männer auf und stolperten aus der Mühle – dicht gefolgt von der jungen Frau.
„Es ist wohl besser, wenn wir die Mühle in Brand setzen“, schlug Watson vor, als sie draußen standen. „Die Gefahr dürfte gering sein. Die Bäume stehen weit genug weg und es ist windstill.“
Holmes nickte, kramte ein Zündholz hervor. Er rieb es an einem rauen Stein und die kleine Flamme züngelte auf. Holmes warf das Hölzchen auf einen Haufen altes Stroh.
Lange sahen sie dem Feuer zu, wie es die alte Mühle verschlang. Henry hatte schlussendlich sein Grab gefunden.

*

Holmes ließ ein wenig von Henrys Blut auf den Objektträger seines Mikroskops tropfen. Er richtete den Spiegel so ein, dass das Sonnenlicht von dem Objektiv aufgefangen werden konnte, und schaute ins Okular. Das übliche Blutbild zeigte sich ihm, aber auch noch etwas anderes. „Watson, sagen Sie mir, was Sie dort erkennen?“
Dr Watson tat es Holmes nach und blickte in das Lichtmikroskop. „Du lieber Himmel, Sie hatten recht, Holmes! Wie in der Zeichnung der London Post!“
„Was haben Sie denn entdeckt?“, wollte Betty wissen, die immer noch bei ihnen war und sich wohl davor fürchtete, ihrer Mutter zu gestehen, dass sie ihren Geliebten gerächt hatte.
Holmes lächelte. „Henry war kein Vampir. Er litt an der Lichtkrankheit und vertrug keine Sonne. Seine Haut verbrannte deshalb regelrecht und sah wie verwest aus. Seine Eltern verbargen ihn, weil sie dachten, er wäre mit dem Teufel im Bunde. In der Mühlenruine jedoch hausen Fledermäuse und die übertragen zuweilen ein Virus. Man fühlt sich zuerst krank, dann fällt man in eine Art Koma. Mr und Mrs Helliway dachten, Henry sei tot und begruben ihn, aber er überlebte das Stadium des Komas und die Krankheit entwickelte sich weiter. Er wurde wahnsinnig und von Blutdurst geplagt.“
„Er war kein Vampir?“, wollte Betty erstaunt wissen.
„War er nicht“, bestätigte Watson.
Draußen entstand plötzlich ein Tumult. Holmes lief zum Fenster und öffnete es. „Was ist denn los?“, brüllte er in den Hof. Die Wirtin blickte angstvoll hinauf. „Ein neuer Vampir ist erwacht! Kommen Sie schnell!“
„Der verletzte Polizist?“, fragte Betty.
Holmes seufzte tief auf und zog sich das Jackett wieder an. „Sieht so aus, als müsste ich meinen Urlaub hier verbringen.“
„Aber Holmes, Sie haben doch gar keinen Urlaub.“

ENDE

 

„Holmes und der Wiedergänger“ erschien zuerst in der von Alisha Bionda herausgegebenen Anthologie „Sherlock Holmes und das Druidengrab“ (Fabylon). © 2020 Tanja Bern

Tanja Bern wurde in Herten/NRW geboren und lebt heute mit ihrer Familie in Gelsenkirchen. Durch eine starke Verbundenheit zur Natur und die Liebe für mystische Geschichten entstand bei ihr schon früh das Bedürfnis zu schreiben. Im Frühling 2008 erschien ihre erste Publikation, der 1. Teil ihrer Buchreihe „Die Sídhe des Kristalls“. Der 5. Teil ist in Vorbereitung. Zurzeit arbeitet sie an verschiedenen Buch-Projekten und Kurzgeschichten.