George R. R. Martin: Traumlieder I (Buch)

George R. R. Martin:
Traumlieder I
(Dream Songs, 2003)
Deutsche Übersetzungen von Werner Fuchs, Maike Hallmann, Michael Fehrenschild, Bernd Rullkötter, Martin Eisele, Birgit Reß-Bohusch, Yoma Cap, Toni Westermayr, Michael Windgassen, Marcel Bieger und Wolfgang Eisermann
Heyne, 2014, Paperback, 540 Seiten, 14,99 EUR, ISBN 978-3-453-31611-9 (auch als eBook erhältlich)

Von Gunther Barnewald

Die vorliegende Sammlung von autobiographischen Essays, Storys und Novellen enthält 13 Geschichten des US-amerikanischen Autors und drei Texte, in denen der Autor von seiner Sozialisation, vor allem seiner literarischen, berichtet.Während die drei Sachtexte für den deutschen Leser neu sind, sind fast alle Erzählungen schon auf Deutsch erschienen.

Nur die ersten drei, nämlich „Nur Kinder fürchten sich im Dunkeln”, „Die Festung” und „Tod war sein Vermächtnis” sind deutsche Erstausgaben, da diese bis zum Erscheinen des Originalbandes in den USA 2003 noch unveröffentlicht waren. Denn eigentlich handelt es sich hier um erste Schreibversuche Martins, welche das Licht der Öffentlichkeit auch nicht unbedingt hätten erblicken müssen. Lediglich die dritte Story ist einigermaßen lesenswert, während „Die Festung” eher eine Geschichtslektion mit unangenehmem Patriotismus darstellt (aber zumindest lesbar erscheint), während die erste der drei definitiv eine pubertäre Superhelden-Geschichte auf niedrigstem Comicniveau darstellt, was nachvollziehbar ist, da Martin schon als Kind einen Hang zu diesen Trivialgeschichten hatte, wie er selbst ausführlich im ersten Sachtext berichtet.

Wirklich hochklassig wird es dann erst ab Seite 117. Hier folgen dann Martins oft nominierte und manchmal auch preisgekrönten SF-Storys, welche schon damals für großen Eindruck im SF-Genre sorgten.

Wer Martins Storybände, die in Deutschland unter den Titeln „Lieder von Sternen und Schatten“, „Die zweite Variante der Einsamkeit“, „Im Haus des Wurms“ und „Sandkönige“ erschienen sind, besitzt, der wird hier kaum Neues finden, sind es doch hauptsächlich diese Erzählungen, die der vorliegende Band enthält.

Während „The Hero” (dt. als „Der Held”) von einem kriegsmüden Soldaten erzählt, der seinen Abschied auf ganz andere Weise als erhofft erhält, berichtet „Exit to San Breta” („Die Ausfahrt nach San Breta”) von einer geisterhaften Begegnung auf einer leeren Autobahn der Zukunft. Hier zeigt sich erstmals auch Martins Gruseltalent, welches später in vielen Geschichten und dem ein oder anderen Roman zur Entfaltung kam. Eine wahrlich wirklich „moderne” Geistererzählung, für die sich wohl auch Oldtimer-Fans restlos begeistern können.

„The Second Variety of Loneliness” („Die zweite Variante der Einsamkeit”) zeigt durch Tagebuch-Einträge, wie das Innenleben eines einsamen Wächters einer Raumstation zerbricht, während „With Morning Comes Mistfall” („Am Morgen fällt der Nebel”) eine der melancholischsten Storys ist, die Martin je geschrieben hat. Vor dem Hintergrund eines mysteriösen, nebelverhangenen Planeten wird erzählt, wie moderne Wissenschaft jeder Romantik den Garaus machen kann, denn die Menschen untersuchen so lange jedes Mysterium, bis es endgültig verschwunden ist und dem Planeten dadurch jedweder Sense of Wonder geraubt wird.

Nach dem dritten und somit letzten Essay erfolgen dann ab Seite 231 jene bunt-exotischen Geschichten, welche Martin bei SF-Lesern dereinst so beliebt machten.

Mit knapp 100 Seiten ist die Novelle „A Song for Lya” („Abschied von Lya”) die längste Erzählung. Sie macht den Leser mit einer Telepathin namens Lyanna, kurz Lya genannt, und ihrem Freund, dem Ich-Erzähler, der ein Empath ist, bekannt, die auf einem fremden Planeten eine uralte Zivilisation erforschen sollen. Die dortigen Ureinwohner haben nur wenig moderne Technik entwickelt, opfern ihr Leben ab einem bestimmtem Alter aber einem anderen Lebewesen, scheinbar aus religiösen Gründen. Als jetzt auch einige Erdenmenschen zu dieser Religion überlaufen, fürchtet die Verwaltung Schwierigkeiten, wenn diese sich bald opfern sollten. Doch Lya entdeckt hinter dem scheinbar sinnlosen Opfer ein verblüffendes Geheimnis...

Während „This Tower of Sshes” („Ein Turm aus Asche”) eine tieftraurige, unglückliche Liebesgeschichte darstellt, zeigt „And Seven Times Never Kill Men” („Das bleiche Kind mit dem Schwert”), dass auch Aggressoren manchmal Opfer ihrer eigenen Eroberungslust werden können. Denn die Götter der fremden Welt, welche die Stahlengel genannten Invasoren erobern, lassen nicht mit sich spaßen und rächen sich auf äußerst perfide Weise. Und so endet diese Erzählung, die mit einem schockierenden Bild begann, mit fast dem gleichen Bild, nur hängen diesmal andere kindliche Opfer an den Festungsmauern der Stadt.

In „The Stone City” („Die Steinstadt”) suchen gestrandete menschliche Raumfahrer auf einer exotischen Fremdwelt, die von vielen intelligenten Rassen bewohnt wird, nach einer Rückflugmöglichkeit in menschliches Gebiet. Gekommen waren sie, um die mysteriöse Steinstadt unter der Planetenoberfläche zu untersuchen. Als jedoch das Raumschiff und die Untersuchungsinstrumente versagten, begann das große Elend...

Und während in „Bitterblooms” („Bitterblumen”) die Geschichte einer großen Lüge auf einem winterlichen Planeten aufgedeckt wird, berichtet „The Way of Cross and Dragon” von der Zukunft der heiligen Inquisition der katholischen Kirche. Hier kommt der Inquisitor auf einem fremden Planeten an seine Grenzen, als er aufdeckt, dass eine neue Häresie (die extrem phantasievoll von Martin ausfabuliert wird), welche den wahren Glauben bedrohen soll, nur fiktional ist und eigentlich dem intellektuellen Kitzel ihres Schöpfers diente, bevor sie mehr Macht erlangen soll.

Vor allem die Erzählungen des letzten Teils bestechen durch ihre Exotik und Buntheit, wobei es Martin meisterhaft schafft, den Leser zu emotionalisieren. Oft sind die Geschichten traurig und schwermütig, vermitteln dieses starke Gefühl von Trauer dem Rezipienten sehr deutlich. Auch Verzweiflung, Überforderung, Ängste und Misstrauen spielen oft ein Rolle, und George R. R. Martin ist ein Spitzenkönner, diese Melange aus Emotionen und Gedanken an seine Leser weiterzugeben.

Wer die Erzählungen Martins noch nicht kennt, dem eröffnet sich hier ein äußerst lebendiges und dabei zudem noch intelligentes Universum fremder Welten, die immer eine Reise wert sind. Wer die alten Storysammlungen des Autors schon besitzt, der kann getrost die Finger von diesem Band lassen, denn außer der knapp 15seitigen Kurzgeschichte „Tod war sein Vermächtnis”, die aber auch nicht an seine späteren Texte heranreicht, wartet hier wenig Sensationelles oder gar Neues auf den versierten Leser.