Harlan Ellison: Ich muss schreien und habe keinen Mund (Buch)

Harlan Ellison
Ich muss schreien und habe keinen Mund
Übersetzungen von Hannes Riffel, Alfred Scholz, Walter Brumm u.a.
Mit einem Vorwort von Sascha Mamczak
Heyne, 2014, Paperback mit Klappenbroschur, 18,99 EUR, ISBN 978-3-453-31557-0 (auch als eBook erhältlich)

Von Gunther Barnewald

Die vorliegende Original-Anthologie enthält 20 Kurzgeschichten und Novellen von Harlan Ellison, einem der herausragendsten Stilisten der Science Fiction. Da Ellison jedoch nie einen Roman verfasst hat, sondern immer nur kürzere Texte, und er für seine präzise zugefeilten Erzählungen auch oft sehr lange braucht, ist sein Gesamtwerk schmal und sein Name heute vielen Lesern leider nahezu unbekannt.

Aber Ellison, der seinen Namen als Registered Trademark schützen lässt, ist ein Autor (und manchmal auch ein glänzender Herausgeber), den es zu entdecken lohnt, hat er doch einige der bemerkenswertesten Kurztexte innerhalb der Phantastik veröffentlicht. Die vorliegende Zusammenstellung legt davon beredtes Zeugnis ab und wartet auf mit einigen großen Klassikern des Genres.

Nach dem leider etwas bedeutungslosen und nichtssagenden Vorwort des Herausgebers dieser deutschen Ellison-Anthologie macht „„Bereue Harlekin“„, sagte der Ticktackman“ den fulminanten Auftakt. Erzählt wird in dieser Geschichte aus dem Jahr 1965 (da die Erzählungen chronologisch geordnet sind, steht sie am Anfang, aber sie ist auch eine von Ellisons besten!) von einem vollkommen durchstrukturierten Zukunftsstaat, in der jede Kleinigkeit fest geregelt ist und in dem eigentlich keine Abweichungen geduldet werden. Bis eines Tages ein Mann im Harlekinkostüm beginnt, Sand ins Getriebe der perfekt getackteten Maschine zu streuen. Mit viel Witz und bunt-poppigen Ideen macht er dem staatlichen Überwacher, dem Ticktackman, das Leben sauer und stürzt diesen, sogar nach der Ergreifung des Dissidenten, in eine Lebenskrise...

Genauso hochklassig geht es in „Die Stadt am Rande der Welt“ weiter. Jack the Ripper wird von einem Zeitreisenden aus der Zukunft entführt. Doch die schöne neue Welt entpuppt sich als Bestiarium, als Hort völlig zügelloser Psychopathen, die hier ihr schlimmsten Perversionen ungezügelt ausleben und den armen Serienkiller locker übertreffen in ihren Exzessen...

Überhaupt wimmelt das Buch von überragenden Geschichten. Egal ob ein Lebensunzufriedener glaubt, er sei auf die Erde als eine Art Hölle verbannt worden, sich zurücksehnt in die eigene Welt, dies auch durch Selbstmord erreicht, nur um zu einer grausigen Erkenntnis zu gelangen („Die bessere Welt“) oder ein Glückspielsüchtiger plötzlich im Kasino lauter Hauptgewinne bekommt, die aber einen furchtbaren Preis von ihm fordern („Zauberhafte Maggie Moneyeyes“), meist verblüfft Ellison mit einem atemberaubenden Plot.

Die möglicherweise bekannteste Erzählung des US-Amerikaners dürfte „Ein Junge und sein Hund“ sein, die auch, mit einem sehr jungen Don Johnson in der Hauptrolle, verfilmt wurde (in Deutschland hieß der Film früher „In der Gewalt der Unterirdischen“). In ihr erzählt der Autor von einer verwüsteten Welt, in der durch Mutationen und Genmanipulation intelligente Hunde entstanden sind, die sogar reden können. Der junge menschliche Protagonist ist der dümmere Teil eines Duos, welches in dieser desolaten Zukunft lebt, in der an der Oberfläche fast nur noch Männer zu Hause sind. Als der junge Mann dank seines intelligenten Hundefreundes eine junge Frau aufspürt, folgt er ihr in ihre unterirdische Welt, wo er gefangen wird und als Zuchtbulle Verwendung finden soll...
Natürlich gibt es auch hier am Ende der Geschichte einen bitterbösen Plot. Leider scheint in dieser von Eva Malsch übersetzten Novelle im Lektorat des Verlages etwas gründlich schief gelaufen zu sein. Wer die Erzählung durch frühere Ausgaben kennt weiß, dass sie im Jahre 2024 spielt und der junge Protagonist etwa 15 Jahre alt ist. Dies ergibt sich daraus, dass ein Film von 1948 schon 76 Jahre alt ist, ein weiterer Film aus dem Jahre 2007 zwei Jahre vor der Geburt des Protagonisten gedreht wurde. In der vorliegenden Ausgabe ist der Film von 1948 nur 68 Jahre alt (also würde die Handlung 2016 spielen) und der zweite Film von 1992 wäre 27 Jahre vor der Geburt des Protagonisten entstanden (der also 2019 geboren worden wäre/werden würde?). Ob dies zeigen soll, dass der Protagonist ein völlig ungebildeter Vollpfosten ist oder doch eher ein krasser Lapsus einiger Mitarbeiter dieser ansonsten grandiosen Ausgabe ist, lässt sich so ohne Weiteres nicht sagen (aber die älteren Übersetzungen deuten eher auf einen Fehler hin, den wohl leider niemand bemerkt hat im Verlag).

Aber egal! Denn beim Lesen stellt man fest, dass warmherzig-romantische Geschichten wie „Jeffty ist fünf“ (die ansonsten nur der frühe Ray Bradbury hätte schreiben können) oder die irrwitzige Erzählung „Ich suche Kadak“ (man stelle sich einen Planeten voller religiöser Sekten vor, in der ein jüdischer Alien einen weiteren jüdischen Alien sucht, um ein uraltes Ritual vollziehen zu können, und dabei auf die verrücktesten Apologeten der schrägsten und durchgeknalltesten Glaubensrichtungen trifft) ein unbändiges Lesevergnügen auslösen.

Selbst die mit knapp 80 Seiten längste und chronologisch späteste Novelle des Autors von 1993 ist ein echtes Highlight (und erinnert inhaltlich stark an Walter M. Millers großen Klassiker „Command Performance“; dt. als „In fremder Gewalt“), genau wie die scheinbar tabulose Story „Das Nachtleben aus Cissalda“, in der sexsüchtige zeitgereiste Fremdwesen den Untergang unserer Zivilisation verursachen (ENTHEMMTES STÖHNEN!!!!).

Ansonsten versammelt dieser Band noch eine Menge weiterer hochklassiger Geschichten, die hier gar nicht alle im Detail aufgeführt werden sollen.

Nur so viel noch: Neben zwei schwächeren weil eher wirren Erzählungen (die mit dem längsten Titel, deren Abschrift ich mir hier erspare und der Geschichte „Der Todesvogel“) gibt es hier eigentlich nur einen Totalausfall: nämlich die sehr kurze Story „Die Bestie, die im Herzen der Welt ihre Liebe herausschrie“, welche zwar eine berühmte Kreation innerhalb der New Wave Ende der 60er Jahre darstellt, jedoch leider gar keine nennenswerte inhaltliche Substanz aufweist.

Sieht man von diesen drei Texten ab, sind alle anderen Erzählungen sehr gut bis überragend, weshalb der Kauf dieses Bandes sich auch für die Fans lohnt, die schon, in verschiedenen Anthologien verstreut, die meisten der hier veröffentlichten Geschichten besitzen.

Ein großer Dank an Heyne, die diesem brillanten Autor endlich wieder einmal eine solch eigenständige Plattform bieten!