Kerstin Pflieger: Der Krähenturm (Buch)

Kerstin Pflieger
Der Krähenturm
Goldmann, 2012, Paperback, 476 Seiten. 12,00 EUR, ISBN 978-3-442-47679-4 (auch als eBook erhältlich)

Von Gunther Barnewald

Nachdem Icherios Ceihn sein erstes Abenteuer, eine gefährliche Ermittlung für die „Kanzelley zur Inspektion unnatürlicher Gegebenheiten” im Schwarzwald des Jahres 1771, glücklich überstanden hat, führt ihn ein neuer Auftrag von Karlsruhe aus mit der Geisterkutsche nach Heidelberg.

Dort hofft der junge Gelehrte, der ein Studium an der dortigen Universität beginnen soll, auch endlich die genaueren Umstände des Todes seines guten Freundes zu erfahren, kann er selbst sich an nichts mehr erinnern und argwöhnt, an dessen Ableben Schuld zu haben. Dabei kreuzen ein Hexenjäger auf heißer Spur, ein seltsamer Untoter namens der Glasfürst, magische Puppenmacher, Auftragsmörder, Hexen, Geister, Vampire und sonstige Gelichter seinen Weg und bald ist Ceihn in ein Komplott verwickelt, welches zum Untergang der ganzen bekannten naturwissenschaftlich basierten Welt führen könnte...

Haben Sie es nicht eine Nummer kleiner, so möchte man die Autorin fragen. Tatsächlich vergaloppiert sich Kerstin Pflieger hier mächtig, was Tempo und Konstruktion der Geschichte angeht. War der Auftaktband der Serie um Icherios Ceihn noch ein sensationell gelungenes Debüt, so ist der Nachfolgeband eine arge Enttäuschung.

Zu viele Handlungsstränge mit zu vielen Figuren, die alle in jedem Kapitel eine oder mehrere sensationelle Entdeckungen machen und/oder haarsträubende Abenteuer erleben müssen. Da wird mal kurz und nebenbei ein Hexenfluch nebst der untoten Verursacherin gebannt, eine ermordete Nixe ihren Artgenossinnen zurückgegeben und einige Auftragskiller entlarvt und über den Jordan befördert. Hier hat die Autorin eindeutig zu viel gewollt, durch ihren GAU an Action die wunderbare Atmosphäre, die noch ihren Erstling auszeichnete, gar nicht erst generieren können.

Da der Leser kaum Zeit hat, zu Atem zu kommen, fallen wunderbare Figuren wie der Glasfürst erst gar nicht ins Auge, die tolle Idee mit den Geistern der Brandopfer einer größeren Stadt kann erst gar nicht ausgereift geschildert werden, sondern wird nur kurz angerissen und damit verschenkt. Pflieger verbaselt ihr Potential leider nur allzu leichtfertig, fühlte sich wohl bemüßigt, Icherios erstes Abenteuer unbedingt weit übertreffen zu müssen, was leider genau zum Gegenteil führt. Und so wie der Effekt einer an jedem Tag genossenen Lieblingsspeise irgendwann zum Überdruss führt, so vergällt auch ein Übermaß an Handlung und Action meist den Lesegenuss. Dazu kommen noch kleinere handwerkliche Fehler wie die Erwähnung einer „blauen Rose” als Lieblingsblume des Verstorbenen (hier hätte eine real existente Blume auch gereicht, man muss doch nicht immer gleich so maßlos übertreiben!) und vor allem die seltsame Literatur, die auf dem Bücherbord der örtlichen Niederlassung des „Ordo Occulto” in Heidelberg steht, nämlich Bücher von Shakespeare, Goethe und Lenz (Seite 73)! Abgesehen davon, dass die meisten Leser automatisch beim Schriftstellernamen Lenz an Siegfried Lenz denken, da sein Namensvetter, der Autor Jakob Lenz, heutzutage nicht mehr ganz so bekannt ist, muss man sich als Leser doch ernsthaft fragen, mit welcher Zeitmaschine ein Mitglied der Organisation hier wohl unterwegs gewesen sein muss, denn die Erzählung spielt schließlich 1771. Jakob Lenz hatte zwar sein erstes Versepos zwei Jahre zuvor veröffentlicht, sonst aber nichts weiter. Und Goethe war 1771 noch völlig ohne eigenständige Publikation, erst 1773 erschien das berühmte Werk um den Edelmann Götz von Berlichingen (vorher verfasste Werke wurde erst später publiziert).

So bleibt „Der Krähenturm“ unbefriedigend und nach dem grandiosen Auftakt eine herbe Enttäuschung, obwohl das Buch noch immer lesbar ist. Das große Potential der Figur und vor allem der Autorin sollte man deswegen aber nicht in Zweifel ziehen, denn gerade Debütanten unterläuft nach dem gelungenen Auftakt manchmal ein solcher Fehler. Prominentestes Beispiel hierfür ist sicherlich Jim Butcher, der mit seiner genialen Serie um den im Chicago der Jetztzeit lebenden Magier Harry Dresden eine ebenso wunderbare wie überzeugende Figur geschaffen hat. Auch diesem Autor misslang nach gutem Auftakt („Sturmnacht“) der zweite Roman („Wolfsjagd“) völlig, indem er zu viel wollte und damit unglaubwürdig wirkte und die Atmosphäre zerstörte. Mittlerweile werden die Geschichten um Harry Dresden von Band zu Band besser, obwohl die Romane von der Seitenzahl her immer voluminöser werden. Ein perfekt konstruierter Spannungsbogen von 600 Seiten ist hier mittlerweile die Regel und ein wahres Wunder!

Also, auf ein Neues Frau Pflieger! Es wird schon!