Kij Johnson: Die Traumsuche der Vellitt Boe (Buch)

Kij Johnson
Die Traumsuche der Vellitt Boe
Übersetzung: Hannes Riffel
Wandler, 2025, Paperback, 232 Seiten, 23,00 EUR

Rezension von Carsten Kuhr

Kij Johnson ist eine Autorin, von der bei uns bislang wenig übersetzt wurde. Neben ihrem - zusammen mit Greg Cox - geschriebenen „Star Trek The Next Generation“-Roman „Die Ehre des Drachen“ bei Heyne, veröffentlichte Piper ihren Roman „Die Fuchsfrau“. Beide Veröffentlichungen waren leider nicht von sonderlichem Erfolg gekrönt.

Dies mag darin begründet sein, dass die Autorin insbesondere im Bereich der Kurzgeschichte publiziert - und dort zu überzeugen weiß.

Ihre Sammlungen „At the Mouth of the River of Bees“ (Small Beer Press, 2012, Finalist für den World Fantasy Award), „The Dream-Quest of Vellitt Boe“ (Tor.com, 2016, Gewinner des World Fantasy Award) und „The River Bank“, eine Fortsetzung von Kenneth Grahames „The Wind in the Willows“ (Small Beer Press, 2017), fanden in den Staaten große Beachtung, wurden in die Auswahllisten renommierter Preise aufgenommen und ausgezeichnet. So ist sie dreifache Preisträgerin des Nebula Awards (2010, 2011 und 2012) und des World Fantasy Awards (2009, 2017 und 2019), Gewinnerin des Hugo Awards (2012) sowie Gewinnerin des französischen Grand Prix de l’Imaginaire (2017), des Theodore Sturgeon Memorial Awards (1992) und des Crawford Awards (1999) - eine wahrlich beeindruckende Vita.

Das vorliegende Buch ist eine Originalzusammenstellung. Sechs Erzählungen warten darauf, dass wir uns für sie Zeit nehmen. Alle wurden von Phantastik-Kenner und Verlagsinhaber Hannes Riffel einfühlsam ins Deutsche übertragen - warum er den Band nicht in seinem Carcosa Verlag publizierte, ist unbekannt. Des einen Leid, des anderen Freud: So hat der Wandler Verlag eine wunderbar abwechslungsreiche, stilistisch herausragende Sammlung in seinem Novitäten-Programm.


Der Band beginnt mit der Novelle „Die Traumsuche der Vellitt Boe“, die mit dem World Fantasy Award ausgezeichnet wurde. In dieser entführt sie uns in eine Welt, die wir erstmals bei H. P. Lovecraft kennenlernen durften. Die Unterwelt, die der Träumer aus Providence uns in seiner Fantasy-Novelle „Die Traumsuche nach dem unbekannten Kadath“ vorstellte, dient auch Johnson als Bühne. Allerdings stellt sie eine Frau, eine Universitätsdozentin, in den Mittelpunkt der Reise.

Als eine Studierende kurz vor ihrem Examen der Liebe wegen ihr Studium abbricht und Ulthar mit einem Galan aus der wachen Welt verlassen will, könnte dies massive Folgen nach sich ziehen. Das Tragische daran ist nicht die Liebe der beiden jungen Menschen zueinander - die Abstammung der Studentin verspricht Komplikationen. Ihr Vater ist der Sachverwalter der Hochschule, der nach der Flucht der Tochter eventuell die Hochschule schließt und damit die einzige Möglichkeit für Frauenbildung beendet. Noch schwieriger: der Großvater der Flüchtigen - ein schlafender Gott, der, einmal erwacht, in seinem unmäßigen Zorn über die Flucht alles Leben in Ulthar beenden könnte…

Lovecrafts „Die Traumsuche nach dem unbekannten Kadath“ ist nicht unbedingt sein bestes Werk. Aber die Fantasy-Novelle bietet ein buntes Ideen-Potpourri von absonderlichen Wesen, merkwürdigen Gegenden und ungewöhnlichen Figuren. Kij Johnson hat in „Die Traumsuche der Vellitt Boe“ einige der Motive aus Lovecrafts Novelle aufgegriffen und daraus ihre eigene Schöpfung geschaffen. Immer wieder stoßen wir auf Reminiszenzen, Motive, ja sogar auf Randolph Carter, der inzwischen gesalbter König Ilek-Vads ist. Johnson gelingt dabei scheinbar mit leichter Hand das, was bei Lovecraft nicht zu finden ist: Sie erzählt eine durchgängig interessante Geschichte der Verfolgung der Flüchtigen durch die so unterschiedlichen Gegenden Ulthars. Dies in einer unaufgeregten Art und Weise, die sich sehr angenehm liest und auch stilistisch überzeugt.


Mit „Ponies“, für die die Verfasserin den Nebula Award bekam, folgt eine recht kurze Story, die uns ob des ungewöhnlichen Themas und der einfühlsamen Zeichnung der Handelnden berührt.

Ebenfalls mit dem Nebula Award ausgezeichnet wurde „Spire“ - die Geschichte einer Raumschiff-Havarie. Die Überlebende wird von einem Alien-Rettungsboot aufgenommen - verständigen können sich die beiden nicht, dafür aber finden sie auf andere Weise zueinander.

In „Schrödingers Katzenhaus“ findet ein Mann in der Schachtel, die er öffnet, ein Bordell, in dem jeder alles sein kann.

„Die Pferderäuber“ entführt uns erneut auf einen fremden, erdähnlichen Planeten. Die Menschen haben sich dort mit den Lebensumständen arrangiert. Als Reiter wandern sie mit ihren Herden über die Prärie - bis ein Kaiser seine Truppen aussendet. Eine Seuche bedroht die Herden des Monarchen. Findet man kein Heilmittel, ist die Lebensart, ja die Existenz der Menschen selbst gefährdet.

Den Abschluss bildet „Das Privileg eines glücklichen Endes“, das wieder mit dem World Fantasy Award ausgezeichnet wurde. Die Novelle stellt ein Mädchen in den Fokus, das, nachdem Wüstschrate die menschlichen Ansiedlungen heimsuchten und nur Tod und Elend zurückließen, zusammen mit ihrer sprechenden Henne Blanche versucht, zu überleben. Sie trifft auf andere Menschen, Eichhörnchen und immer wieder auch auf Wüstschrate - doch Blanche weiß Rat…


Kij Johnson ist keine Autorin, die in Gigantismus schwelgt. Bei ihr sucht man hochtechnisierte Imperien ebenso vergebens wie archaische Königreiche, begegnet weder vernichtenden Armeen noch Raumschiff-Flotten. Sie pflegt lieber die leisen Töne, konzentriert sich auf ihre einfühlsam beschriebenen Figuren und punktet mit Atmosphäre und Ideen. So sind es die berührenden Geschichten um Schicksale, um Hoffnung und Ängste, die uns in die jeweiligen Texte ziehen.

Geschickt nimmt sie uns für ihre Figuren - gerne einmal Mädchen - ein, zeigt uns deren Unsicherheit, aber auch ihren Mut. Immer nutzt sie dabei eher ländliche Gegenden; Technik ist zwar präsent, spielt aber kaum einmal eine Rolle. Ihr geht es darum, uns die Handlungen ihrer Protagonistinnen verständlich und nachvollziehbar darzustellen, uns mit nicht vorhersehbaren Wendungen und Entwicklungen zu überraschen - und innerlich zu berühren. Und all dies gelingt ihr mit scheinbar leichter Hand.

Erwähnen darf ich noch den netten Gimmick, den uns der Verlag offeriert: Passend zur jeweiligen Geschichte wartet unten neben der Seitenzahl eine kleine Illustration auf uns, die ein Motiv des Textes aufgreift.