Olga Tokarczuk: Empusion (Buch)

Olga Tokarczuk
Empusion
(Empuzjon, 2022)
Übersetzung: Lisa Palmes, Lothar Quinkenstein
Kampa, 2023, Hardcover, 384 Seiten, 26,00 EUR

Rezension von Matthias Hesse

In dicken Buchstaben verspricht der Buchrücken einen „feministisch-ökologischen Schauerroman“, doch das darf man getrost als Marketing-Getöse abtun. Der neueste Roman der Nobelpreisträgerin Olga Tokarczuk, frisch von Lisa Palmes und Lothar Quinkenstein aus dem Polnischen übertragen, spielt am Vorabend des Ersten Weltkrieges und beschwört zwar in erschauderlichen Tischgesprächen den frauenfeindlichen Geist dieser Zeit; dennoch hat der Roman eine eindimensionale Etikettierung nicht verdient. Und Ökologie? O ja, die Natur spielt eine wesentliche Rolle, denn hier, im niederschlesischen Kurort Görbersdorf (heute Sokołowsko), ist die waldige Umgebung durchdrungen von geisterhaften Gestalten, den der griechischen Mythologie entlehnten Empusen.

Sie erscheinen als Beobachterinnen, Kommentatorinnen und schließlich auch als handlungsbestimmendes Element, untrennbar verwoben mit den Ausformungen ihrer drückenden, moosigen Umgebung, die gar in Wohnhäuser und Seelen dringen und unbarmherzig ihre Opfer fordern. Doch tagesaktuelle ökologische Problemstellungen werden nicht behandelt. Stattdessen umgibt das Buch ein merkwürdig altmodisches Flair, das zu betören weiß.

Der etwas förmlich-angestaubte Sprachduktus, den Tokarczuk bemüht, passt wunderbar in die Handlungszeit und kann als Kommentar zu Thomas Manns Großroman „Der Zauberberg“ verstanden werden. Auch da kommt ein unbedarfter junger Ingenieur zwecks Lungenkur in die Berge, ins Schweizerische Davos, auch dort begegnen ihm die unterschiedlichsten Zeitgenossen, die ihn für ihre Position einzunehmen versuchen, gibt es Liegekuren, Ärzte, weltanschauliche und metaphysische Debatten. Auch dort zeichnen sich schon die großen Gräuel und Verwerfungen des 20. Jahrhunderts ab.

So kommt zunächst auch „Empusion“ daher, und ist doch auch ganz anders. Görbersdorf liegt in einem feuchten Talkessel, und Mieczlaw Woinicz schafft es erst gar nicht ins Kurhaus. Er bleibt in einer obskuren Männergesellschaft im „Gästehaus für Herren“ hängen, ein geheimnisvoller Zaubertrank namens Schwärmerei sorgt für abenteuerliche Gespräche, bei denen es sich früher oder später stets um die niemals real anwesenden Frauen dreht - das einzige weibliche Wesen im Haus ist die Frau des Gastwirts, die sich gleich zu Beginn des Romans suizidiert.

In den Wäldern hausen Köhler, die aus Moos und Wurzelwerk Fetische bauen. Einen eigenen Friedhof hat der Ort nicht, obschon naturgemäß viel gestorben wird. In der Dachkammer seiner Unterkunft findet Milo einen Folterstuhl. Eine zarte Freundschaft zu dem deutschen Kunststudenten Thilo entsteht, und wir ahnen: Die Sanftheit, mit der sich der Künstler und der Techniker hier annähern, voneinander lernen, sich verletzbar zeigen, hat kaum eine Chance in der bornierten Gesellschaft, die die Autorin beschreibt. Abhärtung ist das Credo, das Ärzte und Patienten zusammenhält.

Im Übrigen hat der Buchrücken durchaus Recht, wenn er einen „Schauerroman“ verspricht. Wie Olga Tokarczuk Atmosphäre kreiert, die mittelgebirgige Schlinge sich zuziehen lässt um ihre herrlichen Figuren, die bis zum Ende nicht begreifen, dass sie in eine Falle geraten sind, das ist absolut meisterhaft, handwerklich und sprachlich (der Parodie zum Trotze) auf höchstem Niveau und mit einer überraschenden Conclusio, die für meinen Geschmack weniger zeitgeistig hätte ausfallen dürfen. Doch das schmälert das Leseerlebnis nicht. Phantastik-Fans, die langsam anschwellende Spannung dem vordergründigen Horror vorziehen, sollten „Empusion“ keinesfalls nur dem Großfeuilleton überlassen.