Markus Lawo (Hrsg.): Abartige Geschichten - Grimm (Buch)

Markus Lawo (Hrsg.)

Abartige Geschichten - Grimm

Titelbild: Markus Lawo
Innenillustrationen: Sabine Klotzsche

Hammer Boox, 2021, eBook, 4,99 EUR

Rezension von Elmar Huber

Germaine Paulus: „Hundert Jahre tief“
Seit nunmehr 36 Jahren vegetiert sie in einem Drogenkoma vor sich hin. Eine Spritze zu viel, die er ihr gesetzt hatte. Eine Fee, ein Fluch und die Aufgabe, sich um sie zu kümmern. Stets lügen, um besorgten Passanten die Schreie zu erklären. Hoch oben auf dem rosenumrankten Balkon.

Ralf Kor: „Very Bad Dwarfs“
Die Sieben Zwerge haben ihre Arbeit im Bergwerk an den Nagel gehängt, kochen stattdessen Drogen und schicken Schneewittchen und ihre Mutter auf den Strich. Doch die Königin ist eifersüchtig auf ihre schöne Tochter, die alle Kunden abgreift, und gibt der DEA einen kleinen Tipp.

Markus Heitkamp: „Schweinefraß“
Nachdem die älteren Wölfe einer nach dem anderen im Wald verschwunden und nicht wieder in den Bau zurückgekehrt sind, bleibt dem Jungwolf nichts anderes übrig, als selbst auf die Jagd zu gehen. Schneller als ihm lieb ist, findet er heraus, wo seine Artgenossen abgeblieben sind.

Erik R. Andara: „Der Markt am Ende der Welt“
Einundzwanzig Silbermünzen ermöglichen es Thos, den Weg zum Markt am Ende der Welt zu beschreiten, wo die alten, vergessenen Götter ihrer einstigen Macht nachtrauern. Hier gelingt es ihm vielleicht, seinen Vater auch nach dessen Tod noch stolz auf seinen Sohn zu machen.

Sonja Rüther: „Goldie und die Bären“
In der Hoffnung auf Liebe und Abenteuer flieht Prinzessin Goldie mit Ritter Archibald aus dem Schloss ihres Vaters. Am nächsten Morgen, nachdem der Ritter sich geholt hat, was er wollte, erwacht sie allein im Wald. Ihr Weg führt zu der Hütte dreier hungriger Bären, die sich über den unverhofften Leckerbissen freuen.

Nici Hope: „Ash“
Die abgerissene Frau, die gerade die Bar betreten hat, beginnt ohne Aufforderung, der Kellnerin ihre Geschichte zu erzählen. Von ihren Schwestern, einem Ball, zu dem sie nicht eingeladen wurde, einem Prinzen, der die Besitzerin eines verlorenen Schuhs sucht, und ihrer rasenden Wut, die sich in Hitze und Feuer entlädt.

Nicole Renner: „Der Junge und die verzauberte Krähenfeder“
Schon längere Zeit ist Sebastian angeödet von dem ewig selben Trott, den er im Freundeskreis erlebt: saufen, kiffen, feiern. Seinen Wunsch, daraus auszubrechen, verarbeitet er in dem Märchen, das er für den Literaturkurs schreiben soll. Auf einem schlechten Trip vermischen sich schließlich Erzählung und Realität. Und wenn er nicht gestorben ist…

Jean Rises: „Der Nekromant von Oz“
Nachdem Dorothys Eltern bei einem Autounfall gestorben sind, wird sie widerwillig von ihrer Tante und ihrem Onkel auf deren Farm in Kansas aufgenommen. Nach einem Streit wird die Farm von einem Sturm verwüstet, Dorothy wird am Kopf verletzt und erwacht im Zauberland Oz. Mit Hilfe einer Vogelscheuche, eines Blechmanns und eines Löwen muss sie den Nekromanten von Oz finden, um in ihre Welt zurückzukehren.

Wolfgang Brunner: „Die Narben kalter Küsse“
Mit einem liebevollen Kuss der schönsten Frau des Landes soll es König Aldor von Menia gelingen, das Vertrauen seines Volkes wieder zu gewinnen und sein Reich zu retten. Mit Sittul scheint diese Schönheit gefunden, doch in seinen Träumen wird der Herrscher vor den Küssen der jungen Frau gewarnt.

Markus Lawo: „Der Herzbube“
Daniel macht sich Sorgen um seine beste Freundin Alicia. Seit sie mit dem sauberen Ralf, dem Drogendealer der Schule, zusammen ist, hat sie sich verändert. Die Pillen, die sie einwirft, lassen Alicia in eine Parallelwelt abdriften, die von den Figuren aus „Alice im Wunderland“ bevölkert ist.

Isa Theobald: „Götter“
Der Großvater erzählt seinem Enkel eine Geschichte darüber, wie die seinen grausam gequält und getötet wurden. Bis sie sich wieder daran erinnerten, dass sie einst Götter waren und Rache übten.

Sam Bennett: „Licht und Schatten - (K)Ein Wintermärchen“
Ängstlich und frierend schleicht sie sich am Silvesterabend in ihrer knappen Kleidung durch den stockdunklen Park. Nur die Zündhölzer, die sie bei sich trägt, geben ihr ein wenig Wärme und bringen die Erinnerungen an eine bessere Zeit zurück.

Joachim Sohn: „Der Grimm“
Auf seinem Weg gen Osten wird ein Prediger hinterrücks überfallen und getötet. Doch Gott schenkt ihm ein neues Leben. Auf seinem weiteren Weg - und auf der Suche nach Fleisch - stößt er auf die Spuren seiner Mörder, Hans und Grete, die eine Spur aus Leichen hinterlassen.

Vincent Voss: „Das gierige Arschloch“
Jasmin und Marco sind wahre ‚Wunschbrunnentouristen‘, die schon jede Menge Hartgeld in diversen Wasserlöchern versenkt haben. Beiden ist klar, dass das nur ein spaßiges Hobby ist, auch wenn Marco sich an die vage Hoffnung klammert, dass sein Wunsch nach Analsex doch eines Tages in Erfüllung geht. Schon vor den Besuch des im Wald gelegenen Pelauer Wunschbrunnens liegt animalische Geilheit in der Luft, und alle Zeichen stehen gut, dass Marco heute ans Ziel seiner Träume gelangt.

Sascha Dinse: „Glitch“
Eine Gruppe Rollenspieler sucht Ablenkung und Abenteuer in einer Fantasy-Simulation, in der sie gemeinsam einen Drachen erlegen. Doch die Freude über ihre Heldentat währt nicht lange, denn das Programm hat plötzlich eine Fehlfunktion, einen Glitch, der für die Spieler zur tödlichen Gefahr wird.

Diana Kinne: „Knusper, knusper…“
Der Teufel hat Greta übel mitgespielt. Nach einer heftigen Affäre in der Hölle verbannt er sie, ihrer überdrüssig, in ein Waldhaus, in dem sich alles Essbare in Zuckerzeug verwandelt. Schnell hat sie gelernt, dass sie damit die Sterblichen anlocken kann, um ihre fleischlichen Gelüste - in beiderlei Sinn - zu stillen und so ihre Jugend zu erhalten.

Jacqueline Mayerhofer: „Layandralien“
Unter falschem Namen gelingt es Lenora, eine Audienz beim Elfenprinzen Esyriel zu erhalten. Ihr Ziel: Rache für ihre Schwester Cathy, die eines von sieben Opfern war, die der Prinz für sein Weiterleben benötigt.

Markus Kastenholz: „Mythos!“
Unversehens ergibt sich für Aiko die Möglichkeit, den zurückgezogen lebenden Buchautor Matsunaga zu treffen, der mit seinen phantastischen ‚Mythos!‘-Büchern regelmäßig große Erfolge feiert. Der Autor erzählt ihr von seiner Jugend und wie es zum ersten ‚Mythos!‘-Buch kam; eine Geschichte, die selbst wie ein Märchen anmutet.


Eine Heroin-Spritze statt einer Spindel, Drogenkoma statt hundertjährigem Schlaf, Aschenputtel hinterlässt nur verbrannte Erde, das Mädchen mit den Schwefelhölzern muss sich als Prostituierte verdingen. Bekannte Märchen-Motive neu gedeutet. Das bekommt der Leser in den besten Momenten von „Abartige Geschichten - Grimm“ geboten. Und angesichts des Fundus, aus dem sich hier schöpfen lässt, ist es verwunderlich, dass erst jetzt eine Horror-Anthologie mit Märchen-Motiven erscheint.

Auch in seinem dritten „Abartige Geschichten“-Streich hat sich Herausgeber Markus Lawo einige namhafte Autorinnen und Autoren der deutschen Phantastik-Szene geangelt, die eine bunte Reise durch diverse Märchenreiche bieten: Germaine Paulus, Ralf Kor, Sascha Dinse, Vincent Voss, Isa Theobald, Wolfgang Brunner und einige mehr haben sich von den gesammelten Erzählungen der titelgebenden Brüder Grimm, aber auch von „Der Zauberer von Oz“ und „Alice im Wunderland“ inspirieren lassen und präsentieren ihre eigenen - mal subtilen, mal durchaus harten - Interpretationen dieser symbolträchtigen Vorlagen. Beinahe so, wie es der amerikanische Verlag Zenescope Entertainment in Comicform praktiziert.

Die meisten Beiträge bestechen schon allein durch die stets überraschende Art und Weise, in der bekannte Elemente in einem neuen Zusammenhang präsentiert und interpretiert werden. Neben den überwiegend gelungenen Storys gibt es auch einige, die eine strengere Auswahl gerechtfertigt hätten. Auch das Lektorat hätte gern strenger hinschauen dürfen, um dem Leser Sätze wie „Ihre Eltern starben vor zwei Jahren bei einem Autounfall, bei dem auch Dorothy war.“ zu ersparen. Leider trüben solche kleinen Lese-Stolperfallen empfindlich den ansonsten positiven Gesamteindruck.

Diese Ausrutscher außen vorgelassen, darf man auch „Abartige Geschichten - Grimm“ wieder als Top-Anthologie im Bereich deutscher Phantastik bezeichnen und sich auf Band 4 freuen.

Sehr gelungen auch das Abschluss-Gedicht von Bernar LeSton, in dem sich eine Köchin nach und nach ihre Herrschaft munden lässt.

Als schönes Extra hat die Künstlerin Sabine Klotzsche alias Eulenfrollein zu jeder Geschichte ein passendes Entry-Bild beigesteuert.