Jérôme Gemander: Alabaster Photo (Buch)

Jérôme Gemander
Alabaster Photo
Elmquist Editions, 2020, eBook, 1,99 EUR (auch als Paperback erhältlich)

Rezension von Elmar Huber

„Vielen Leuten gelang es im Nachhinein nicht zu beschreiben, was sie auf Aurels Bildern gesehen hatten, sie dichteten Dinge dazu oder vergaßen zentrale Motive einfach. Jeder, der sich Mühe gab, verfiel früher oder später darauf, Stimmungen zu beschreiben, die ein Bild bei ihm ausgelöst hatte, und selbst hier driften die Empfindungen der Betrachter üblicherweise auseinander.“

Der einst gefeierte Fotograf Aurel Calum hat seine besten Zeiten lange hinter sich, als ihn sein alter Freund und Weggefährte Sean Mansfield für die neue Werbekampagne einer Jeansfirma zurück nach Berlin holt. Jahre zuvor hat der eigensinnige Künstler, nachdem er mit einem einzigen Foto schlagartig berühmt wurde, die Hauptstadt aus unbekannten Gründen Hals über Kopf verlassen.

Eigentlich ist in der der heutigen, von Teamfähigkeit und austauschbaren ‚Talenten‘ dominierten Werbebranche kein Platz für den in die Jahre gekommenen Exzentriker, doch die Aussicht auf ein Einkommen sowie die künstlerische Freiheit, die ihm ein unbekannter Mäzen indirekt gewährt, lassen ihn den Job annehmen.

Doch Aurel Calums Rückkehr nach Berlin bleibt nicht unbemerkt, und die Vergangenheit beginnt, ihn einzuholen. Merkwürdige Dinge geschehen in seinem Umfeld. Irgendjemand kennt offenbar die Gründe für sein damaliges überstürztes Verschwinden.

„Die Augen des seltsamen Mannes weiteten sich für den Bruchteil einer Sekunde, und er bleckte die Zähne, als im Hintergrund irgendwo Wasser in einer heißen Pfanne zischte, ein Geräusch, das wie ein Fauchen klang, sodass Aurel für eine Sekunde erschrocken zurückfuhr.“


Mit „Alabaster Photo“ präsentiert Autor Jérôme Gemander eine Wiederveröffentlichung seines Romans „Die Federn des Kormorans“ in seinem eigenen Verlag Elmquist Editions. Das Cover verspricht einen Noir-Krimi, doch man muss feststellen, dass eine klassische Krimihandlung überhaupt nicht vorhanden ist. Ein ungeklärter Todesfall erweist sich zwar als Dreh- und Angelpunkt der Geschichte, doch wird dieses Ereignis nie zum Motor der Handlung. Viel mehr hat der Autor Freude am unaufdringlichen Spiel mit Andeutungen.

Obwohl die Romanhandlung in der Gegenwart angesiedelt ist, hat man das Gefühl, sich in einem zwielichtigen und rauschhaften Berlin des Expressionismus zu befinden. Eine Stimmung, wie sie etwa auch in Kai Meyers „Das zweite Gesicht“ oder „Babylon Berlin“ herrscht. Surreal anmutende Handlungsorte - ein heruntergekommenes Atelier, bestückt mit abgehängten Möbeln und Schaufensterpuppen, ein schummriges, labyrinthisches Cabaret, ein geheimer Beobachtungsposten auf einem Dachboden - schaffen eine traumartige Atmosphäre. Dazu die misanthropischen Kapriolen des großen Künstlers, der auf dem schmalen Grat der Selbstverachtung balanciert und der seine Modelle wie Leibeigene behandelt.

Andere Figuren treten - mal nur kurz, mal wiederholt - ins Rampenlicht der Handlung und tauchen wieder ab, nachdem sie ihren keineswegs unwichtigen Zweck erfüllt haben. Und wie ein Schatten schwebt im Hintergrund der Geschichte der Mord an einer Frau, der in irgendeiner Verbindung zu Calums Vergangenheit steht. Die schrittweise Aufklärung dieser zurückliegenden Ereignisse geschieht eher zufällig.

Trotz dieser vermeintlichen Unschärfen schafft es der Autor auf erstaunliche Art, die Story kompakt zu halten. Jede Szene hat innerhalb der Handlung ihren Sinn, nichts ist reiner Selbstzweck, und am Ende schließt sich der Kreis. Großartige Leistung!

Mysteriöses, fiebriges Krimi-Puzzle mit surrealen Momenten und unterschwelliger Erotik. Wer sich gern auf eine solch traumartige, etwas betäubende Atmosphäre einlässt, für den ist „Alabaster Photo“ eine absolute Empfehlung. In Stil und Stimmung vergleichbar mit Arthur Gordon Wolfs „Katzendämmerung“.