Selin Visne: Die Überlieferung der Welt (Buch)

Selin Visne
Die Überlieferung der Welt
Titelbild: Katharina Netolitzky
dtv, 2020, Taschenbuch, 442 Seiten, 10,95 EUR, ISBN 978-3-423-71852-3 (auch als eBook erhältlich)

Rezension von Christel Scheja

Schon mit 13 Jahren begann die 2001 in Wien geborene und heutige Studentin Selin Visne zu schreiben, „Die Überlieferung der Welt“ ist ihr Debüt-Roman und entstand durch einen Wettbewerb von dtv mit der Online-Plattform Sweek.


Um die Menschen zu beschützen schenkten die jungen Götter den Menschen einst die Magie und hinterließen ihnen wichtige Überlieferungen. Doch nun, viele Jahrhunderte später, scheint Vieles davon vergessen zu sein und die Sterblichen beginnen ihre Künste zu missbrauchen.

Die Taschendiebin Laelia kämpft um das tägliche Überleben, das ihr durch einen Unterweltboss und seine Handlanger erschwert wird. Als sich die Situation verschärft, muss das Mädchen einen Pakt mit Hadrian dem Ziehsohn ihres Feindes eingehen und das ist nicht alles. Schon bald macht ein Seher ihnen klar, dass wichtigere Aufgaben auf sie warten - und er nimmt die beiden, zusammen mit anderen unwilligen Gefährten, mit auf eine lange Reise; an deren Ende nicht weniger als das Ende der alten Ordnung steht. Etwas, was andere mit allen Mitteln verhindern wollen.


Die junge Autorin benutzt in ihrem Debüt klassische Motive und Figuren, die sie aber abwechslungsreich zusammen mischt und somit doch gelegentlich zu überraschen weiß. Denn nicht immer erfüllt sie Erwartungen. Die Charaktere werden liebevoll ausgebaut, so erhalten Hadrian und Laelia viel Raum, damit sie sich weiterentwickeln und vor allem auch Gefühle füreinander entwickeln können.

Verbindender Faden zwischen allen ist der Seher Divan, der dem Leser allerdings durch seine harsche und ungeduldige Art nicht ganz so sympathisch ist, Die restlichen Figuren wie Merla, Vena und Bacary bleiben doch eher ein wenig blass.

Interessant ist, dass hier die Magie nicht unbedingt der große Segen ist, sondern eher ein Fluch, den die Mächtigen zu ihren Gunsten ausnutzen, teilweise auch, um die eigene Macht und ein hierarchisches System aufzubauen. Andere wieder scheinen sie so zu fürchten, dass sie diese streng reglementieren und nicht zuletzt wissen auch die Helden nicht immer so ganz, was sie damit anfangen sollen. In diesen Momenten wird die Geschichte regelrecht unangenehm, schlägt aber schön in die Kerbe der Dystopien, die vom Kampf junger Leute gegen etablierte Systeme der Erwachsenen erzählen.

Die Figuren haben es auf ihrer Reise nicht leicht, lernen aber immer mehr Gründe kennen, welche Aufgabe sie erfüllen sollen, was auch dabei hilft, nach und nach immer mehr Vertrauen zu den anderen zu entwickeln, so dass sie besser zusammenarbeiten können.

Um der Dramatik willen werden ihnen natürlich auch jede Menge Steine in den Weg gelegt. Das führt allerdings auch dazu, dass das eigentliche Ende, der große Showdown, mehr oder weniger schnell abgehandelt wird und das Buch erstaunlich offen endet. Auch kommt der eigentliche Hintergrund hinter dem Geplänkel der Figuren viel zu kurz; manche Schauplätze kann man sich gar nicht richtig vorstellen, auch die Motive der Götter und der titelgebenden Überlieferung bleiben eher schwammig. Was bleibt ist ein zwiespältiger Eindruck, denn so gut viele Ideen auch sind, gerade zum Ende hin zeigt die Umsetzung doch deutliche Schwächen, die vermutlich nicht jedem Leser gefallen werden.

„Die Überlieferung der Welt“ vermischt Dystopie mit einem spannenden Fantasy-Abenteuer und lässt dabei vor allen die Figuren zur Geltung kommen. Das liest sich stellenweise sehr flüssig und spannend, nur zum Ende hin überstürzt sich die Handlung. Die Autorin macht sich Vieles zu einfach, so dass der Abschluss nicht ganz so zufriedenstellend ist, wie er hätte sein können - wenn er dadurch auch mehr als dem Rahmen fällt, als vielen Lesern lieb sein dürfte.