Siri Hustvedt: Damals (Hörbuch)

Siri Hustvedt
Damals
(Memories of the Future,, 2019)
Regie: Joachim Schönwald
Übersetzung: Uli Aumüller und Grete Osterwald
Ungekürzte Lesung von Iris Berben
Argon, 2019, 3 mp3-CDs, ca. 890 Minuten, 29,95 EUR, ISBN 978-3-8398-1715-5

Rezension von Irene Salzmann

1979: Die junge S. H. aus Minnesota - schon bald ihr Spitzname - bezieht in New York eine kleine Wohnung. Sie möchte studieren und ihren Traum, Autorin zu werden, realisieren. Doch ihre Arbeit stagniert, weil sich ihr eine völlig neue Welt auftut, die sie erforschen und von der sie sich inspirieren lassen will. Auf der einen Seite schillert die Großstadt in prächtigen Farben durch die schönen Cafés, Bibliotheken, interessante und intellektuelle Menschen, mit denen sie über Literatur diskutieren kann; auf der anderen gibt es Straßen, die heruntergekommen und schmutzig sind, die Armut und Kriminalität atmen.

Außerdem beschäftigen Minnesota die Vorgänge in der Nachbarwohnung, in der eine gewisse Lucy Brite fortwährend singt, mit sich selbst spricht und jammert. Es fallen Worte wie Misshandlung, Kindstod und Mord. Die Lauscherin kann sich keinen Reim darauf machen, saugt jedoch, dank der dünnen Wände, begierig jede Silbe auf und schreibt alles in ihrem Tagebuch nieder. Übt die Frau ein Theaterstück? Ist ihr etwas Schreckliches widerfahren? Oder ist sie verrückt?

Schnell sind Minnesotas Ersparnisse aufgebraucht, und der Hunger lässt sie so tief sinken, dass sie in Mülltonnen nach Essbarem zu suchen beginnt. Die angewiderten Blicke, die man ihr zuwirft, treffen sie sehr, sodass sie sich zusammenreißt und ihr Leben ändert. Dass sie einen Job als Lektorin angeboten bekommt, wobei sie tatsächlich die Lebensgeschichte einer alten Frau anhand von Notizen und Erzählungen schreibt, hilft ihr, sich über Wasser zu halten, obgleich sie damit hadert, dass ihre Auftraggeberin am Schluss den eigenen Namen auf das Manuskript setzt und die Früchte dieser Arbeit allein erntet.

Während Minnesota weiterhin vergeblich versucht, ihren eigenen Roman voranzubringen und mit dessen Handlung immer neue Wege einschlägt, lernt sie viele Menschen kennen und hat auch so manche Affäre. Als der Stolz eines flüchtigen Bekannten ein Nein nicht zulässt, fällt er in ihrer Wohnung über sie her. Der Lärm veranlasst Lucy und ihre Besucher, nach dem Rechten zu sehen, und Minnesota kommt mit einem blauen Auge davon. Eine vorsichtige Freundschaft bahnt sich an, getragen von gemeinsamen schlechten Erfahrungen mit Männern sowie weiblicher Solidarität, und Stück für Stück erfährt Minnesota Lucys Geheimnis.

Vierzig Jahre später erinnert sich eine gealterte Minnesota, inzwischen verheiratet und erfolgreiche Schriftstellerin, an ihr Leben vor, während und nach dieser aufregenden Zeit in New York. Vieles ist ihr, teils vage, im Gedächtnis geblieben. Einiges hat sie aufgeschrieben, oft im Tagebuch. Selbst das Manuskript, mit dem sie sich so schwer tat, spiegelt ihre Erlebnisse und Gedanken wider. Manches wurde ihr leicht verändert von anderen aus deren Perspektive erzählt. Natürlich gibt es viele Abweichungen und Geschehnisse, die sich nicht mehr völlig rekonstruieren lassen. Auch ihre eigene, spätere Sichtweise ist nicht dieselbe von „Damals“.


Ständig wird zwischen den verschiedenen Phasen von Minnesotas Leben hin und her gesprungen. Ein Stichwort wird aufgegriffen, der Handlungsfluss unterbrochen und eine Begebenheit äußerst detailreich geschildert, die nicht unbedingt etwas mit dem zu tun hat, was davor oder danach geschieht, jedoch einen großen Einfluss auf die Protagonistin ausübte. Dadurch wird ihr persönlicher Entwicklungsprozess deutlicher, als wäre der Verlauf rein chronologisch, doch wirkt die Story infolgedessen auch etwas verworren.

Man darf davon ausgehen, dass Siri Hustvedt viele eigene Erfahrungen in die Geschichte von „S. H.“ hat einfließen lassen, wenn es nicht gar eine Autobiografie ist, die durch einige Extras wie vielleicht Lucys Geheimnis aufgepeppt wurde. Denn auch die Autorin stammt aus Minnesota, wollte schon immer Schriftstellerin werden, studierte ab 1978 Anglistik in New York, heiratete 1983 den Schriftsteller Paul Auster und promovierte 1986. Die Parallelen sind augenscheinlich.

Ob man an der Lektüre Vergnügen hat, ist Geschmackssache. Zweifellos ist es angenehmer, dem Hörbuch, gelesen von der bekannten Schauspielerin Iris Berben zu lauschen, als bei einem knapp 450seitigen Ziegelstein bei der Stange zu bleiben, wenn sich Längen einstellen.

Am besten blättert man ein wenig in dem Buch oder verschafft sich über die auf der Verlagsseite von Argon angebotene Hörprobe einen kleinen Eindruck, um leichter entscheiden zu können, ob man das Thema und seine Aufbereitung interessant findet.