Ulrich Tukur: Der Ursprung der Welt (Buch)

Ulrich Tukur
Der Ursprung der Welt
S. Fischer, 2020, Hardcover, 304 Seiten, 22,00 EUR, ISBN 978-3-10-397273-3 (auch als eBook erhältlich)

Rezension von Gunther Barnewald

Der vorliegende Roman ist nicht die erste Publikation des bekannten Schauspielers Ulrich Tukur, aber es scheint seine erste im Bereich der Phantastischen Literatur zu sein.


Tukur erzählt hier die Geschichte eines Mannes aus den 30er Jahren des 21. Jahrhunderts; einer unsicheren Zeit voller Anschläge, wirtschaftlicher und gesellschaftlicher Schwierigkeiten, in der Europa von vielen Krisen geschüttelt wird.

Ausgerechnet das einst so lebhafte und unstrukturierte Frankreich scheint, im Gegensatz zum früher disziplinierten Deutschland, durch neue Gesetze und konsequent verwendete Sicherheitstechnologie (Stichwort: Überwachungsstaat) am stabilsten in der Krisenlage zu agieren, so dass es kein Wunder ist, dass der junge deutsche Protagonist Paul Goullet dieses Land bereist, um etwas zur Ruhe zu kommen.

Eines Tages entdeckt er auf dem Pariser Bücherflohmarkt ein altes Foto-Album aus den 20er/30er Jahren des 20. Jahrhunderts, welches scheinbar ihn selbst in der Kleidung der damaligen Zeit in verschiedenen Posen und bei verschiedenen Aktivitäten zeigt.

Hatte Paul einen Doppelgänger in der damaligen Zeit? Oder gibt es Zeitreisen? Oder hatte er einen Vorfahren, der ihm so ähnlich sah, dass man beide für eineiige Zwillinge halten könnte?

Paul ist fasziniert und kauft das Foto-Album, um die hier abgebildeten Orte in der französischen Provinz aufzusuchen, die er schnell ausfindig machen kann.

Dann passiert etwas völlig Unvorhergesehenes: Paul beginnt mit seinem Doppelgänger geistig zu verschmelzen und erfährt so immer mehr über dessen teilweise spektakuläres Leben, vor allem während der Besatzungszeit der 40er Jahre, und entdeckt dessen grausames Geheimnis...

 

(Achtung: Ab hier erfolgt gleich, notgedrungen, ein kleiner Spoiler, der aber notwendig erscheint, um eine stichhaltige Besprechung durchführen zu können; wer also das Buch noch lesen will, sollte vielleicht jetzt aufhören zu lesen!).

Die Stärke der Erzählung Tukurs liegt eindeutig in den ersten knapp 100 Seiten, welche atmosphärisch dicht, romantisch, unheimlich und mitreißend geraten sind. Vor allem die Vergangenheit wird von Zauberhand lebendig, und wäre es so weitergegangen, dem Autor wäre ein Meisterwerk gelungen.

Leider verlässt Tukur diesen Pfad aber bald wieder und widmet sich hauptsächlich der Beschreibung der Untaten des Arztes, der einerseits für die Résistance arbeitete und Flüchtlingen vor den Nazis zu entkommen half, andererseits aber auch viele von diesen Fliehenden heimlich tötete und zur Seite schaffte (angelehnt an einen wahren historischen Fall, wie der Autor im Nachwort schildert).

Leider wird die Figur des Serienkillers immer dominanter und erstickt die interessante Erzählung zugunsten unmotivierter Grausamkeiten, denn dem Autor gelingt es nicht einmal ansatzweise, die Motivation des Arztes für seine Untaten glaubhaft zu machen. Vielleicht war Tukur daran auch gar nicht interessiert, denn nirgendwo unternimmt der Autor Anstrengungen, die Untaten des Arztes plausibel oder intellektuell nachvollziehbar zu gestalten. Psychose, antisoziale Persönlichkeit, Raffgier, Machtgeilheit, Narzissmus oder etwas anderes? Nicht einmal ansatzweise verständlich wirken die Handlungen des ärztlichen Serienkillers, der so gegen sein eigentliches Berufsethos handelt. Stattdessen werden seine Untaten ausgewalzt und lassen die Erzählung und vor allem die Atmosphäre immer mehr verblassen.

Dies ist sehr schade, denn die guten Ansätze sind unübersehbar, der Auftakt der Geschichte einfach wunderbar.

Gegen Ende des Romans stellt sich beim Leser leider eine Mischung von Angewidertheit und Langeweile ein, die es schwer macht, die Erzählung zu Ende zu lesen und die den positiven Eindruck des Anfangs irgendwann völlig verwischt.

Hätte der Autor sich mehr auf den Zauber seiner phantastischen Idee verlassen oder würde er wenigstens die innere Motivation des Arztes plausibel gemacht haben, dann wäre man als Leser deutlich zufriedener gewesen. So ist das Buch weder Fisch noch Fleisch, weder gute Phantastik noch psychologisch glaubwürdige Studie, sondern einfach nur eine große verschenkte Möglichkeit.

Auch die schlussendliche Verknüpfung der beiden Leben durch familiäre Bande (denn Pauls Vorfahre hatte als hoher Nazifunktionär damals tatsächlich Kontakt mit dem mörderischen Arzt) rettet die Geschichte leider nicht mehr.

Festzuhalten bleibt: Tukur ist ein guter und fähiger Erzähler, dem aber leider dieser Roman ziemlich misslungen ist. Schade drum!