Kir Bulytschow: Der einheitliche Wille des gesamten Sowjetvolkes (Buch)
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- Kategorie: Rezensionen
- Veröffentlicht: Sonntag, 26. Januar 2020 11:41

Kir Bulytschow
Der einheitliche Wille des gesamten Sowjetvolkes
Übersetzung: Ivo Gloss
Illustrationen: Renate Gloss
Memoranda, 2020, Paperback mit Klappenbroschur, 300 Seiten, 18,00 EUR, ISBN 978-3-948616-00-7 (auch als Hardcover und eBook erhältlich)
Rezension von Gunther Barnewald
Die vorliegende Zusammenstellung wurde von Ivo Gloss arrangiert, der auch den größten Teil des hier vorliegenden Buchs übersetzt und ein Nachwort über den Autor und sein Werk beigesteuert hat und der zudem eine deutsche Bibliographie des Autors zusammengestellt hat (ebenfalls hier enthalten).
Leider erinnert das Titelbild (und auch der durchaus satirisch gemeinte Titel des Buchs, der von der ersten Kurzgeschichte in dem Band stammt) doch etwas zu sehr an alte totalitäre Tage, aber die Ausgabe ist ansonsten liebevoll gemacht (so findet sich auf der Umschlagklappe eine Karikatur des Kopfes des Autors, welche dieser dereinst selbst gezeichnet hatte) und zusammengestellt.
Das Buch enthält einen Roman des Autors und drei Kurzgeschichten Bulytschows (bürgerlich Igor Moshejko), alle sehr gesellschaftskritisch, oft auch satirisch oder ökologisch angehaucht, und, obwohl meist in den 80er Jahren entstanden, heute aktueller denn je.
In der Titelgeschichte landen außerirdische Kabinen während der Breschnew-Ära auf der Erde. Jedem Volk wird angeboten, einen ihrer verstorbenen Helden wiederzubeleben. Wer bei einer innerlichen Abstimmung aller Landesbewohner von der jeweiligen Bevölkerung die meisten Stimmen bekommt, kehrt ins Leben zurück. Im Zentralkomitee des Politbüros der UdSSR herrscht daraufhin ganz schnell helle Panik und Aufruhr: Was wenn die Leute sich Stalin zurückwünschen, oder, vielleicht noch schlimmer, gar Lenin? Dies gilt es zu verhindern, denn sonst verliert das ZK der greisen alten Männer vielleicht bald seine ganze Macht. Also schreibt man dem Volk, zum Leidwesen der armen Puschkin-Gesellschaft, vor, sie sollen gefälligst alle an Karl Marx denken, denn der kann nicht mal Russisch und könnte in die DDR abgeschoben werden. Doch sollte dies schiefgehen, hat man noch einen perfiden Plan B, der dann auch zur Anwendung kommt...
Eine hundsgemein-wunderbare politische Farce, die der Autor hier aus dem Ärmel schüttelt. Sie alleine wäre schon die Anschaffung dieses Bandes wert.
Danach folgt ein etwa 220seitiger Roman, der sehr harmlos und unspektakulär mit dem Besuch eines sowjetischen Auslandskorrespondenten in der Provinz beginnt, wo dieser zur Bildung der einfachen Werktätigen Vorträge halten soll. Doch schon bald wird der Journalist in eine Intrige verwickelt und erfährt zudem, dass am Ort mehrere große Fabriken stehen, die gefährliche Gifte unkontrolliert in die Umwelt entlassen. Und während die Leiter des chemischen Werkes, der Futtermittelfabrik und des Textilkombinats alle ihre eng getakteten Jahrespläne zu erfüllen haben und deshalb keine Rücksicht auf den Umweltschutz glauben nehmen zu müssen, fließen die Giftstoffe in einem nahegelegenen See ungehindert zusammen und verpesten nicht nur die Atemluft. Bis es dann plötzlich (und leider völlig vorhersehbar, wenn man von Chemie etwas Ahnung hat) zum Giftgas-Supergau kommt...
Der Roman beginnt etwas bräsig und scheinbar so harmlos, bevor der Autor im zweiten Teil abrupt den Turbolader zündet. Dann wird es ungeheuer spannend und beklemmend. Noch schlimmer gestaltet sich jedoch das Danach der tödlich schleichenden Katastrophe, in der die Verantwortlichen zeigen, wie man geschickt auch Tausende von Toten verheimlichen kann.
Mit geradezu maliziöser Detailliertheit zeigt der Autor, wie sich die Verursacher des GAU aus der Verantwortung stehlen, und wer den erschreckenden russischen Spielfilm von 2014, der bei uns bei ARTE unter dem Titel „Durak - der ehrliche Idiot „(manchmal auch „Durak - der Narr“, „Durak, der Idiot“) lief, kennt, der weiß, welche Strukturen in der ehemaligen Sowjetunion für solche Fälle existierten und bis heute in Russland existieren.
Während im Westen mit Filmen wie „Smog“ (1973) oder „Im Zeichen des Kreuzes“ (1982) schon relativ früh auf industrielle Gefahren aufmerksam gemacht wurde, durften solche „defätistischen“ Geschichten im Ostblock nicht erzählt werden. Sogar das Thema Atomkrieg war bis zum Zeitalter von Glasnost und Perestroika hier verboten, geschweige denn, dass man über reale Geschehnisse (siehe Tschernobyl) die eigene Bevölkerung informierte.
Bulytschows Roman ist deshalb auch heute noch so interessant, weil er nicht nur immer noch so ähnlich irgendwo in der Welt vorkommen könnte, sondern weil der Autor sich auch mit dem entsetzlich Nachher ausgiebig beschäftigt und zeigt, mit welcher Perfidie gerade hochrangige Verantwortungsträger sich aus ihrer Verantwortung stehlen können und welch kriminelle Energie sich hier entwickeln lässt.
Nach dem Roman folgen noch zwei recht kurze Storys:
In „Der freie Tyrann“ bereist ein Mann namens Udalow (und kundige Leser gehen wohl zurecht davon aus, dass es sich bei ihm um einen von Bulytschows Lieblingsprotagonisten namens Korneli Udalow handelt, einen der bekanntesten Einwohner der fiktiven Stadt Guslar oder besser Groß-Guslar; denn der Autor hat sich seinen eigenen literarischen Ort erschaffen, so wie einige seiner Kollegen (man denke nur an Ray Bradburys Green Town, Illinois” oder Stephen Kings Castle Rock in Maine); eine Art Alternativwelt, in der ein Tyrann mittlerweile so viele Menschen hat einsperren lassen, dass diese in einem riesigen Freigehege leben, welches fast die ganze Welt umfasst. Als der Tyrann auch noch die letzten freien Menschen dazu sperren lässt, zeigt sich, dass er bald einsam und eingesperrt alleine hinter dem Zaun sitzt.
Eine leider arg plakative politische Groteske, wenn auch mit Schmunzeleffekt.
In der letzten Story, „Der alte Iwanow“, wird von einem Mann berichtet, der so gierig nach Prämien ist, dass er dafür, ohne nachzudenken, jeden Auftrag durchpeitscht. Iwanows Erfolg ist dabei so haarsträubend groß, dass er immer heftigere Schäden anrichtet, Hauptsache, er hat den Auftrag erhalten und bekommt seine Erfolgsprämie bei Durchführung. Natürlich ist er auch beim Weltuntergang erfolgreich, bekommt er doch auch hier... oder etwa doch nicht, wenn keiner mehr da ist?
Auch diese Geschichte wirkt etwas überzogen und zu offensichtlich grotesk, um sie vorbehaltlos gut zu finden.
Insgesamt muss man dem Herausgeber (und somit auch dem mutigen Kleinverlag) aber ein großes Kompliment machen: Auch wenn die Übersetzung an der ein oder anderen Stelle sprachlich etwas geschmeidiger hätte sein können, ist es doch wunderbar, endlich mal wieder etwas bisher in Deutschland noch Unveröffentlichtes dieses grandiosen russischen Schriftstellers lesen zu dürfen.
Vor allem die erste Kurzgeschichte und der spannende und hervorragend geschriebene Roman, sind die Anschaffung des Buchs allemal wert.
Und wer die älteren Erzählungen des Autors kennt (allen voran die Geschichten um Alissa und die aus Groß-Guslar), der weiß, dass Bulytschow ein im wahrsten Sinne des Wortes phantastischer Erzähler war, der seine Leser mit Haut und Haaren packen konnte, der Gefühle erzeugen, Wunderglauben herstellen und vor allem so prägnant und fast schon „sinnlich“ (nicht in sexuellem Sinne gemeint) beschreiben konnte, dass man bei ihm immer das Gefühl hatte, bei den Geschehnissen vor Ort zu sein und alles zu sehen, zu hören, zu riechen, zu fühlen und zu schmecken, was auch die Protagonisten gerade erlebten.
Schön endlich mal wieder bisher Unveröffentlichtes in Deutsch von ihm zu lesen, schade, dass es so bestimmt nicht weitergeht. Mein Wunsch an den kleinen Verlag: Bitte mehr von Bulytschow; wenn es geht, alles was bisher an Prosa noch nicht in Deutschland erschienen ist von ihm. Denn einen so wunderprächtigen Erzähler weiter zu ignorieren, ist einfach nur Sch...