Graham Norton: Eine irische Familiengeschichte (Hörbuch)

Graham Norton
Eine irische Familiengeschichte
(A Keeper, 2018)
Übersetzung: Silke Jellinghaus
Vollständige Lesung von Charly Hübner
Argon, 2019, 7 CDs, ca. 502 Minuten, 19,95 EUR, ISBN 978-3-8398-1716-2

Rezension von Irene Salzmann

Nach dem Tod ihrer Mutter fliegt Elizabeth Keane von New York nach Buncarragh, Irland, um das Haus, in dem sie aufgewachsen ist, zu verkaufen, denn jetzt gibt es erst recht nichts mehr, das sie dazu veranlassen könnte, in den kleinen, spießigen Ort zurückzukehren.

Obgleich die Verwandten sich längst die besten Stücke unter den Nagel gerissen haben, entdeckt Elizabeth einige gut verwahrte Briefe, die offenbar von dem Mann geschrieben wurden, der ihr angeblich früh verstorbener Vater war und von dem ihre Mutter nie hatte sprechen wollen. Noch eine weitere Überraschung wartet auf Elizabeth: Sie hat ein zweites Haus geerbt, das ihres Vaters - Castle House, eine Farm am Fuß einer Ruine bei Muirinish in Kilkenny an der keltischen See.

Ein Hochzeitsfoto und die Erinnerungen von Personen, die ihre Eltern kannten, bringen Dinge ans Licht, die Elizabeth einen Schock versetzen, aber auch die Erklärung liefern für manche merkwürdige Begebenheiten, wenngleich die schlimmsten Details von denen, die alles wussten, mit ins Grab genommen wurden.

Als hätte Elizabeth daran nicht schon genug zu tragen, überrascht sie ihr siebzehnjähriger Sohn Zach, der keineswegs in den Ferien bei seinem schwulen Vater, ihrem Ex Elliot, weilt, mit der Nachricht, dass er seine erheblich ältere Nachhilfelehrerin Michelle geschwängert hat.


Der irische Schauspieler, Fernsehmoderator, Komiker und Autor Graham Norton wurde 1963 unter dem Namen Graham William Walker in Clondalkin, einem Vorort von Dublin, geboren. Er spielte unter anderem in den Filmen „Another Gay Movie“ und „Hauptsache verliebt“ sowie in den TV-Serien „Father Ted“ und „The Graham Norton Show“. Als Schriftsteller debütierte er mit „Ein irischer Dorfpolizist“. „Eine irische Familiengeschichte“ ist sein zweiter Roman.

Graham Norton erzählt hier die Geschichte zweier Frauen, wobei er regelmäßig von der Gegenwartshandlung um Elizabeth Keane in die Vergangenheit zu ihrer Mutter Patricia und wieder zurück wechselt.

Elizabeth sieht sich mit dem Nachlass ihrer Eltern und so manchen Erinnerungen konfrontiert, aber auch mit unerwarteten Problemen, verursacht von ihrem ruhigen und vernünftig erscheinenden Sohn, der den Spruch „Stille Wasser sind tief.“ bestätigt. Die raffgierigen Verwandten sind dem Autor mit ihrem typischen Verhalten genauso wie der Flirt mit Brian, der das Land, auf dem das Haus von Elizabeths Vater steht, erworben hat, nur einige Nebenszenen wert. Der Fokus bleibt auf das Puzzle gerichtet, welches Elisabeth mit Hilfe von Briefen, Fotos und enthüllenden Gesprächen zusammensetzt. Alles, was sie bisher geglaubt hatte, wird auf den Kopf gestellt, doch eröffnet ihr das auch eine neue Sicht auf ihre Mutter und sogar auf Zachs Situation.


Um der Einsamkeit nach dem Tod der Mutter zu entrinnen, lässt sich Patricia von einer Freundin überreden, eine Kontaktanzeige aufzugeben. Auf diese Weise lernt sie Edward kennen, der in ihrer Gegenwart so anders, so still und unbeholfen ist und überhaupt nicht so, sie ihn sich aufgrund seiner zärtlichen Briefe vorgestellt hat. Als sie erkennt, dass sie getäuscht wurde, sitzt sie bereits in der Falle: Edwards dominante Mutter stellt Patricia mit Betäubungsmitteln ruhig und sperrt sie im Gästezimmer ein. Edward scheint darüber nicht glücklich, ist aber zu schwach, um sich gegen seine Mutter zu stellen. Das Drama spitzt sich zu, denn Patricia erfährt schließlich, was man von ihr will und warum man sie nicht gehen lassen kann.


Mehr darf man nicht verraten, um die Spannung zu bewahren. Erfahrene Leser beziehungsweise Hörer ahnen aufgrund einzelner eingestreuter Andeutungen bald, was los ist und welche Folgen das für die Gegenwart hat - sehen ihre Vermutung nach und nach bestätigt. Sie erfahren auch die ganze Wahrheit, anders als Elizabeth, der dadurch einige Details erspart bleiben.

In diesem Roman stehen starke Frauen, ‚Über‘-Mütter, im Zentrum, während die Männer eher unscheinbar und oberflächlich wirken (Brian), sich treiben lassen und das eigene Vergnügen der Verantwortung voranstellen (Elliot), trotz Überforderung Verantwortung übernehmen wollen, aber zurückgewiesen werden (Zach) oder sich unterwerfen, um der Mutter weiteren Kummer zu ersparen (Edward).

Edwards Mutter hat schwere Schicksalsschläge verkraften müssen und daraufhin beschlossen, dem Glück ihrer Familie nachzuhelfen, koste es, was es wolle. Sie ist verschlagen, skrupellos und glaubt tatsächlich, das Richtige zu tun. Patricia ist nahe dran, sich in ihr Schicksal zu ergeben, doch passiert immer wieder etwas, das sie aus ihrer Verzweiflung rüttelt und sie veranlasst, nach jedem noch so kleinen Strohhalm zu greifen und schließlich eine ungewöhnliche Entscheidung zu treffen. Elizabeth wird zum ersten Mal aus ihrem kleinen Familien-Idyll gerissen, als sich Elliot zu seiner Homosexualität bekennt, dann ein zweites Mal, als Zach gesteht, dass er Vater wird, doch was sie nun über ihre Mutter weiß, lässt sie reifen. Auch Michelle erweist sich als nicht so übel, wie es zunächst aussah, denn sie freut sich auf das ungeplante Kind und will es allein aufziehen, um Zach nicht seiner Zukunft zu berauben. Nebenbei, nahezu alle Menschen, die Elizabeth nach ihren Eltern befragt, sind Frauen.

All diese wichtige Rollen besetzende Frauen nehmen Vieles auf sich, stellen ihre eigenen Interessen zum (vermeintlichen) Wohl anderer zurück. Die einen wachsen über sich hinaus und schlagen einen Pfad ein, der ihnen neue Chancen eröffnet, die anderen geraten auf einen Irrweg oder haben schlicht Pech.

Die Geschichte dieser Menschen wird von dem Schauspieler und Regisseur Charly Hübner, geboren 1972 in Neustrelitz als Carsten Johannes Marcus Hübner, gelesen. Er spielte zum Beispiel in einigen „Tatort“-Folgen und „Krabat“, stand in „Galileo Galilei“ und „Der Idiot“ auf der Bühne und las Martin Baltscheids „Krähe und Bär“ sowie Graham Nortons „Ein irischer Dorfpolizist“.
 
Seine dunkle Stimme wirkt, da in erster Linie Frauen die Handlungsträger sind, etwas zu hart. Wenn er sie verstellt, um die wortkargen oder ‚coolen‘ Männer kenntlich zu machen, empfindet man das als leicht übertrieben. Davon einmal abgesehen, folgt man der Lesung gern, da der Vortrag sehr gut verständlich ist.

„Eine irische Familiengeschichte“ ist ein ergreifendes, spannendes Drama, bei dem die Romantik im Keim erstickt wird und die Krimi-Elemente vage bleiben. Auch wenn der Wechsel der Handlungs- und Zeitebenen längst ein gängiges Mittel ist, um die Spannung zu steigern, und man erahnt, in welche Richtung die Geschichte geht, wird man gut unterhalten.