Cixin Liu: Jenseits der Zeit (Buch)

Cixin Liu
Jenseits der Zeit
(Shishen Yongsheng, 2010)
Übersetzung: Karin Betz
Titelbild: Stephan Martinière
Heyne, 2019, Paperback, 990 Seiten, 16,99 EUR, ISBN 978-3-453-31766-6 (auch als eBook erhältlich)

Rezension von Gunther Barnewald

Die vorliegende Geschichte ist der Abschlussteil der aufsehenerregenden Trilogie des chinesischen Autors Cixin Liu, die mit dem sensationellen Roman „Die drei Sonnen“ begonnen hatte (wer übrigens Band 1 und 2 noch nicht kennt, sollte diese Rezension besser nicht lesen, denn natürlich wird hier auch ein bisschen vom Inhalt der beiden Vorgängerromane verraten).

Leider ist das Buch mit knapp tausend Seiten erneut sehr dick geworden und, ähnlich wie bei Lius Novellen (siehe hierzu meine Besprechung von „Wandernde Erde“), geht es nie um Kleinigkeiten, und wenn nicht das Schicksal der ganzen Menschheit behandelt wird, dann geht es höchstens noch um das Schicksal des ganzen Universums. Unterhalb dieser „kleinen“ Themen arbeitet der Autor wohl nur sehr selten.

 

So auch in „Jenseits der Zeit“: Nachdem der wackelige, auf gegenseitiger Abschreckung basierende Frieden mit den Trisolariern, die eigentlich die Erde komplett übernehmen wollen und die Menschheit vollständig auslöschen, endlich erreicht ist, zeigt sich, dass beide Seiten kulturell davon sehr profitieren. Doch dann steht ein Wechsel an, denn die Mechanismen, die den Frieden auf der Erde erhalten, hängen von Luo Ji ab, dem Mann, der die einzig erfolgreiche Abwehrstrategie gegen die Invasoren erdachte. Im Alter soll dieser jedoch abgelöst werden und einige fürchten, dass ein potenzieller Nachfolger (in diesem Fall die junge Chinesin Cheng Xin) vielleicht nicht in der Lage wäre, die Drohung glaubwürdig aufrecht zu erhalten.

Als dann die Katastrophe eintritt, scheint der größte Teil der Menschheit verloren, die Trisolarier scheinen zu triumphieren. Oder wendet sich das Blatt und beide Rassen werden ausgelöscht?

 

Erneut gelingt dem Autor eine äußerst kraftvolle, in großen Teilen auch spannende Geschichte, die jedoch nie völlig überzeugt.

Zunächst dürfte viele nichtchinesische Leser der „Chinozentrismus“ der Erzählung etwas stören. Alle wichtigen, längerfristig agierenden Protagonisten sind Han-Chinesen. Weder andere Bevölkerungsgruppen in China noch Menschen aus dem Rest der Welt spielen in dieser epischen Geschichte eine große Rolle, obwohl es doch angeblich nicht nur um die Menschheit, sondern sogar um das ganze Universum geht. Selbst die Trisolarier rücken völlig in den Hintergrund.

Zudem trickst der Autor mit neuen Erfindungen so lange herum, bis auch die ältesten Protagonisten durch Kryoschlaf so lange leben können, dass sie auch das Ende des Universums noch erleben können.

All dies trägt nicht wirklich zur Glaubwürdigkeit der Geschichte bei. Liu erinnert, je länger die Erzählung währt, immer mehr an einE krude Mischung aus dem populären, sehr naturwissenschaftlich geprägten US-amerikanischen SF-Schriftsteller Isaac Asimov und dessen Landsmann, dem „Weltenzerstörer“ und Schöpfer der Saga um Captain Future, Edmond Hamilton (dessen Story „Fessendes Worlds“, dt. als „Fessendes Welten“, siehe „Die besten Storys von Edmond Hamilton“, auch Ideengeber für das vorliegende Epos gewesen sein könnte).

Trotz des mangelnden Realismus ist die Geschichte sehr packend geraten und diesmal (in „Der dunkle Wald“ war ja der extrem dröge Anfang negativ aufgefallen) auch ziemlich durchgängig spannend (erst gegen Ende gibt es deutlich wahrzunehmende Ermüdungserscheinungen, was bei annähernd 1000 Seiten aber auch kein Wunder ist!).

Wer die ersten beiden Bände gelesen hat, wird sich diesen Abschluss sowieso nicht entgehen lassen. Für alle anderen ist Band 3 eher verlorene Liebesmühe, denn die meisten und verblüffendsten Ideen hat Liu tatsächlich im Auftaktband schon verschossen.

Und wer bisher glaubte US-Amerikaner seien oft paranoid und neigten zu überdurchschnittlichem Misstrauen, der muss hier erkennen: Lius Weltbild ist noch viel paranoider und feindseliger als alles, was man bisher gelesen hat. Hier ist das Universum bevölkert von bis an die Zähne bewaffneten ängstlich-feindseligen Spezies, die jede nur mögliche aufblühende Konkurrenz im Keim ersticken möchten und alles ultimativ auf Verdacht wegradieren, was die eigene Evolution auch nur entfernt gefährden könnte.

In einer genialen Kurzgeschichte warf der US-amerikanische SF-Schriftsteller Poul Anderson dereinst die Frage auf, was passieren würde, wenn die Menschheit auf einem fremden Planeten auf eine Rasse stoßen würde, die sich durch ihre Intelligenz viel schneller als die Menschheit entwickeln würde, aktuell aber noch hinterherhinkt, da sie später gestartet ist. Würde man sie auslöschen, bevor sie die eigene Ebene erreichen? Oder würde man versuchen, sie zum Verbündeten zu machen, sie gewähren lassen und von ihnen profitieren? Zum Glück war Anderson so schlau, diese Frage offen zu lassen am Ende seiner Kurzgeschichte.

Bei Liu gibt es hierzu keine Fragen. Präventivschläge sind die einzigen Möglichkeiten. Gnade und die Hoffnung auf gegenseitige kulturelle Befruchtung sind keinerlei Optionen. Es bleibt zu hoffen, dass dies nicht die typische Sichtweise aller Chinesen ist, sondern nur die von Cixin Liu.

Dereinst regte sich der sowjetrussische Autor Iwan A. Jefremov über das Misstrauen auf, welches den Plot lieferte für die Kurzgeschichte „First Contact“, deutsch „Erstkontakt“, des US-amerikanischen SF-Schriftstellers Murray Leinster (siehe hierzu „Die besten Storys von Murray Leinster“). Jefremov vertrat die These, dass intelligente, technisch versierte Fremdrassen auch moralisch einen großen Sprung nach vorne gemacht haben müssten, sie deshalb alle überzeugte Sozialisten seien und friedlich miteinander verkehren würden. So einseitig unrealistisch dieser Blick heute wirkt, so sympathisch ist er doch manchmal, vor allem, wenn man Lius krass negative Sichtweise betrachtet.

In diesem Sinne ist Lius Buch zwar ein interessantes und zum Nachdenken anregendes Werk, wirklich sympathisch ist sein einseitig deprimierende Sichtweise des Universums aber nicht. Auch alle Fans der Serie „Star Trek“ werden hier nicht begeistert sein.

Vielleicht sind andere intelligente Rassen im Universum wirklich für immer viel zu weit von uns entfernt, um jemals einen realistischen Kontakt herzustellen. Sollte es jedoch anders sein und man durchbricht irgendwann mit den Reisemöglichkeiten tatsächlich die „Lichtmauer“, dann bleibt nur zu hoffen, dass Lius Sichtweise sich nicht als Wahrheit herausstellt, denn sonst sind wir (um es mal so despektierlich auszudrücken) alle absolut am Arsch!